Kolyma
hinabgleiten. In einer verborgenen Tasche hatte er ein Messer, das die anderen beim Durchsuchen nicht gefunden hatten. Er befreite es aus dem Stoff, seine Finger lagen schon auf dem Springmechanismus, während er seine Flucht berechnete.
Frajera trat vor. Sie hatte eine Entscheidung gefällt.
* * *
Frajera musterte die Gesichter der Männer. Mit gespannter Konzentration fixierten sie sie, so als ob dies allein das gewünschte Urteil hervorbringen würde. Jahre hatte sie dafür gebraucht, sich ihre Loyalität zu verdienen, hatte Gehorsam belohnt und jeden Abweichler bestraft. Und trotzdem hing jetzt so viel von einem so kleinen Vorfall ab. Jede Meuterei brauchte einen Grund, hinter den sich die Leute scharen konnten. Der beliebte, beschränkte Lichoi hatte ihre Leute hinter sich gebracht.
Sie sahen in ihm das Musterbeispiel eine Bandenmitglieds. In seinen Trieben erkannten sie ihre eigenen wieder. Wenn er hier vor Gericht stand, dann standen sie alle vor Gericht. Der Streit, um den es hier ging, war vielleicht banal, aber die Probleme, wegen der sie die schodka einberufen hatten, waren alles andere als banal. Ihrer Ansicht nach gab es hier nur ein annehmbares Urteil: Frajera musste Malyschs Tod anordnen.
Frajera hörte zu, wie sie die wory-Gesetze zitierten, als seien sie heilig, und staunte über die fehlende Selbsterkenntnis der Männer. Dabei basierte das Gesetz dieser Bande doch gerade nicht nur auf der Einhaltung traditioneller wory-Gepflogenheiten, sondern ebenso auf ihrer Übertretung. Schließlich waren sie doch alle Männer und ließen sich trotzdem von einer Frau anführen, was es in der Geschichte der wory noch nie gegeben hatte. Im Gegensatz zu jedem anderen derschat mast oder Anführer einer Diebesbande war Frajera nicht nur daran interessiert, außerhalb des Staates zu operieren. Sie wollte Rache am Staat und an den Leuten, die ihm dienten. Diese Rache hatte sie ihnen in den Worten erklärt, die sie verstehen konnten, nämlich dass der Staat nichts anderes war als eine größere, rivalisierende Bande, mit der sie in einer erbitterten Blutfehde lagen. Trotzdem wusste sie, dass die wory letztendlich konservativ waren. Lieber hätten sie einen männlichen Anführer gehabt, einen, dem es nur um Geld und Sex und ums Saufen ging. Sie tolerierten ihren Racheplan ebenso wie ihr Geschlecht, aber beides tolerierten sie nur, weil Frajera brillant war und sie selbst nicht. Frajera finanzierte sie und beschützte sie, sie waren von ihr abhängig. Ohne Frajera würde die Mitte fehlen und die Bande in zerstrittene und bedeutungslose Grüppchen zerfallen.
Zu dieser merkwürdigen Allianz war es im Gulag Minlag gekommen, einem im Norden, südöstlich von Archangelsk gelegenen Lager. Ursprünglich hatte die nach Artikel 58 verurteilte politische Gefangene, die damals noch Anisja geheißen hatte, kein Interesse an den wory gehabt. Sie bewegten sich in verschiedenen Kreisen, die sich ebenso wenig mischten wie Wasser und Öl. Im Mittelpunkt von Anisjas Leben hatte einzig und allein ihr neugeborener Sohn Alexej gestanden. Für ihn hatte es sich gelohnt zu leben, ein Kind, das man lieben und beschützen musste. Nachdem sie den Jungen drei Monate lang gestillt und mehr geliebt hatte, als sie je geglaubt hatte, jemanden lieben zu können, hatten sie ihn ihr weggenommen. Eines Nachts war sie aufgewacht und hatte festgestellt, dass er weg war. Zunächst hatte die Schwester behauptet, Alexej sei im Schlaf gestorben. Anisja hatte die Schwester gepackt und durchgeschüttelt und ihr Kind zurückverlangt, bis ein Wärter sie zurückgeprügelt hatte. Die Schwester hatte sie angezischt, dass keine Frau, die nach Artikel 58 verurteilt war, es verdiente, ein Kind aufzuziehen.
Du wirst nie eine Mutter sein!
Von nun an würde der Staat die Elternschaft für Alexej übernehmen.
Anisja war krank geworden, krank vor Kummer. Sie hatte im Bett gelegen, jede Nahrung verweigert und im Schlaf fantasiert, dass sie immer noch schwanger war. Sie hatte gespürt, wie das Kind trat und um Hilfe schrie. Die Schwestern und feldschery hatten es kaum erwarten können, dass sie starb. Die Welt um sie herum hatte ihr jeden Grund gegeben zu sterben und auch jede Gelegenheit. Doch etwas in ihr hatte sich gewehrt. Anisja hatte ihre eigene Weigerung zu sterben genau untersucht, wie ein Archäologe, der eine dünne Schicht Wüstensand wegwischt, weil er wissen will, was sich darunter verbirgt. Was sie freigelegt hatte, war nicht das Gesicht ihres Sohnes
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