Kolyma
eine Sache zu klären gewesen. Der Lagerkommandant von Minlag war aufgetaucht, um sein Leben mit ihr zu verbringen, wie sie beide es sich doch erträumt hatten, und um seinen Anteil an der Beute zu kassieren.
Hier ist dein Anteil.
Mit diesen Worten hatte sie ihm ein Messer in den Bauch gerammt. Nicht besonders nett, schließlich verdankte sie ihm ihr Leben. Zum Sterben hatte er nicht mal eine Stunde gebraucht, hatte sich auf dem Fußboden gewunden und sich dabei gefragt, wie er sich nur so hatte irren können. Bis die Messerspitze in seinen Bauch drang, war er sich sicher gewesen, dass sie ihn liebte.
Im Raum herrschte gespannte Stille. Frajera hob die Hand. »Die normalen wory-Gesetze gelten für uns nicht. Früher hattet ihr gar nichts, nicht einmal etwas zu beißen. Ich habe euch gerettet, obwohl ich euch nach den wory-Gesetzen hätte sterben lassen sollen. Wenn ihr krank wart, habe ich euch Medizin besorgt. Wenn es euch gut ging, habe ich euch Opium und Alkohol gegeben. Meine einzige Bedingung war Gehorsam. Das ist unser einziges Gesetz, und was das betrifft, hat Lichoi mich betrogen.«
Keiner rührte sich. Die Blicke der Männer flackerten von links nach rechts, jeder versuchte zu erahnen, was der neben ihm dachte.
Lichoi hatte sich auf seine Krücke gestützt, sein Gesicht war wutentstellt. »Warum bringen wir die Schlampe nicht einfach um? Ein Mann soll uns befehligen und nicht irgendein Weib, die findet, vögeln wäre ein Verbrechen.«
Frajera trat näher an Lichoi heran. »Würdest du etwa diese neue Bande anführen? Du, Lichoi? Früher hast du mir für eine Brotkruste die Stiefel geleckt. Du lässt dich von deinen Eingebungen leiten, und das macht dich dumm. Du würdest eine Bande ins Verderben führen.«
Lichoi wandte sich an die Männer. »Los, wir machen sie zu unserer Hure. Wir sind doch richtige Männer.«
Frajera hätte einfach einen Satz nach vorn machen, Lichoi die Kehle durchschneiden und die Kampfansage damit beenden können. Aber ihr war klar, dass sie diesen Streit einvernehmlich lösen musste, und deshalb konterte sie. »Er hat mich beleidigt.«
Jetzt mussten die wory sich entscheiden.
Einen Moment lang rührte sich keiner. Dann griff eine Hand nach Lichoi, danach eine zweite. Jemand trat ihm die Krücke weg. Sie stießen ihn zu Boden und rissen ihm die Kleider vom Leib. Nackt hielten sie ihn am Boden fest, je ein Mann pro Arm und Bein. Einer ging zum Ofen und holte eine glühend heiße Kohle aus dem Feuer.
Frajera sah auf Lichoi hinab. »Du gehörst nicht mehr zu uns.«
Sie drückten ihm die Kohle an sein eintätowiertes Kruzifix - das Zeichen, das sie alle trugen. Die Haut warf Blasen. Nicht nur war die Tätowierung ausgelöscht, seine Haut würde auch so entstellt sein, dass er sich keine neue machen lassen konnte. Normalerweise hätte man ihn daraufhin ausgestoßen und gehen lassen. Aber Frajera kannte sich zu gut mit Rachegelüsten aus. Sie würde sicherstellen, dass er seine Verletzungen auf keinen Fall überlebte. Sie warf Malysch einen kurzen Blick zu, und in diesem Blick lag ihr Befehl. Er zog sein Messer und ließ die Klinge aufschnappen. Er würde sämtliche Tätowierungen herausschneiden.
* * *
In ihrer Zelle umklammerte Soja die Gitterstäbe, während sie hörte, wie die Schreie durch den Flur hallten. Es waren die Schreie eines Mannes, nicht die eines Jungen. Soja war erleichtert.
Kolyma
Fünfzig Kilometer nördlich vom Hafen von Magadan,
sieben Kilometer südlich von Gulag 57
9. April
Sie standen nebeneinander, jeder stierte auf die Schulter seines Nebenmannes und schaukelte mit der Bewegung des Lastwagens. Es gab zwar keinen Wärter, der sie daran gehindert hätte, sich hinzusetzen, aber Bänke gab es ebenso wenig, und der Boden war so kalt, dass sie allesamt beschlossen hatten, lieber stehen zu bleiben. Wie eine Viehherde traten sie auf der Stelle, um sich warm zu halten.
Leo befand sich ganz außen am Ende der Ladefläche. Die Plane hatte sich gelöst und sorgte dadurch auf der Ladefläche für Temperaturen unter null, doch dafür gewährte die auf- und zuflatternde Leinwand wenigstens gelegentliche Ausblicke auf die Landschaft. Der Konvoi folgte der Landstraße von Kolyma hinauf in die Berge, einer künstlich angelegten Fahrbahn, die sich aber so vorsichtig über das Gelände wand, als sei sie sich bewusst, dass sie hier unbefugt in die totale Wildnis eindrang. Insgesamt waren es drei Lastwagen. Man hatte sich nicht einmal die Mühe einer Eskorte
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