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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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oder das von Lasar gewesen. Sie hatte Leo gesehen, den Klang seiner Stimme gehört, seine Hand auf ihrer gespürt und mit ihr den ganzen Betrug und Verrat. Wie einen Zaubertrank hatte sie diese Erinnerungen in einem Zug genossen. Der Hass hatte sie von der Schwelle des Todes zurückgeholt. Am Hass war sie genesen.
    Hätte sie den Gedanken, Rache an einem MGB-Offizier zu nehmen, der sich viele Hundert Kilometer weit weg befand, jemandem erzählt, hätte man sie ausgelacht. Aber ihre Ohnmacht zermürbte sie nicht etwa, sondern wurde für Anisja zu einer regelrechten Inspirationsquelle. Dann würde sie eben bei null anfangen und von dort ihre Rache aufbauen. Während die anderen Patientinnen schliefen, betäubt mit Kodein, spuckte sie die Tabletten wieder aus und sammelte sie. Sie stellte sich weiter krank und blieb in der Krankenstation, während sie unbemerkt ihre Kraft zurückgewann und eine Dosis Medizin nach der anderen sammelte. Die Tabletten verbarg sie im Saum ihrer Hose. Als sie eine genügende Menge beisammenhatte, verließ sie zur großen Überraschung der Schwestern die Krankenstation und kehrte ins Lager zurück, ausgerüstet nur mit ihrem Verstand und einer Hose voller Tabletten.
    Bis zu ihrer Verhaftung hatte man Anisja immer nur als ein Anhängsel von anderen betrachtet. Erst war sie die Tochter eines Mannes gewesen, dann die Frau eines Mannes. Jetzt, wo sie auf sich allein gestellt war, begann sie sich ein neues Ich zu erschaffen. All ihre Schwächen schob sie dem Charakter von Anisja zu. All ihre Stärken bündelte und verwob sie zu einer neuen Identität - zu der Frau, die sie werden wollte. Sie belauschte die wory, machte sich mit ihrem Jargon vertraut und wählte sich einen neuen Namen. Ab jetzt würde sie Frajera heißen, die Außenseiterin. Die wory gebrauchten das Wort nur verächtlich, als Beleidigung, aber sie würde es zum Namen ihrer Stärke machen.
    Einem der Anführer hatte sie ihr Kodein im Tausch für seine Gunst angeboten und ihn gebeten, seiner Bande beitreten zu dürfen. Der Hauptmann hatte sie verlacht und die Bedingung gestellt, dass sie einen allseits bekannten Informanten umbrachte. Ihr gesamtes Kodein hatte er als Garantiezahlung ohne Rückerstattung eingestrichen, denn die Aufgabe, die er ihr gestellt hatte, lag seiner Ansicht nach weit über ihren Fähigkeiten. Schließlich hatte sie noch vor drei Monaten ihren Säugling gestillt. Und selbst wenn sie sich traute und tatsächlich versuchte, den Informanten umzubringen, würde sie bestimmt erwischt und in Isolationshaft gesteckt oder gleich exekutiert werden. Keine Sekunde hatte der derschat mast geglaubt, sein Versprechen halten zu müssen. Doch drei Tage später hatte der Informant während des Abendessens angefangen zu husten und war auf den Boden gesackt, den Mund voller Blut. Jemand hatte zerkleinerte Rasierklingen unter seinen Kohl gemischt. Sein Versprechen zurückzunehmen war dem Bandenchef unmöglich gewesen, das verbot das Gesetz der wory. So war Frajera die erste Frau in seiner Bande geworden.
    Frajera hatte allerdings nicht die Absicht, nur einfaches Mitglied zu bleiben. Um ihre Pläne verwirklichen zu können, musste sie das Sagen haben. So benutzte sie das, was sie von den wory lernte, um ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Unter anderem hatte sie von ihnen gelernt, dass sie ihren Körper als eine Ware wie jede andere einsetzen konnte, ohne sich in irgendeiner Weise dafür schämen zu müssen. Also hatte sie sich darangemacht, den Kommandanten des Gulags zu verführen. Da der sich jedoch für seine sexuelle Befriedigung sowieso jede Frau in sein Büro bringen lassen konnte, hatte Frajera dafür sorgen müssen, dass er sich in sie verliebte. Ihren Abscheu hatte sie lediglich als weiteres Hindernis betrachtet, das es zu überwinden galt. Innerhalb von fünf Monaten hatte er auf ihre Bitte hin die gesamte Bande in ein anderes Lager verlegen lassen. Jetzt konnte Frajera ihre eigene Bruderschaft aufmachen.
    Da kein Verbrecher, der etwas auf sich hielt, je eine Frau als Anführerin akzeptiert hätte, hielt sie sich an die Außenseiter, die Ausgestoßenen - jene wory also, die die Abfallhaufen durchwühlten, Fischgräten ablutschten und an verfaultem Gemüse herumkauten. Verstoßen hatte man sie entweder wegen irgendeines Streits oder Verrats oder weil sie irgendwann versagt hatten. Manche waren sogar bis zum tchuschka abgesunken, derart in Ungnade gefallen, dass es den anderen wory nicht einmal erlaubt war, sie zu berühren.

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