Kolyma
Nach dem Gesetz der Verbrecherbanden war eine solche Schande unumkehrbar. Doch während sich sonst niemand dazu herabgelassen hätte, auch nur den Namen dieser Verachteten in den Mund zu nehmen, hatte Frajera ihnen eine zweite Chance gegeben. Einige waren schon an Leib oder Seele zerbrochen, andere hatten ihr damit gedankt, dass sie sie zu stürzen versuchten, sobald sie wieder bei Kräften waren. Die meisten aber hatten sie als Anführerin anerkannt.
Nach Stalins Tod hatte die Freiheit nicht mehr lange auf sich warten lassen. Frauen und Kinder waren amnestiert worden. Die Mitglieder ihrer Bande hatten ohnehin kürzere Strafzeiten, da sie keine politischen Gefangenen waren. Frajera hatte nicht etwa vor, Leo einfach zu stellen und ihm ein Messer in den Rücken oder eine Kugel in den Kopf zu jagen. Sie wollte, dass er so litt, wie sie gelitten hatte. Dafür brauchte sie Zeit und die nötigen Mittel. Viele Banden betrieben Handel auf dem Schwarzmarkt, doch hier waren die Möglichkeiten begrenzt, weil der Kuchen bereits verteilt war. Und Frajera hatte nicht etwa die Absicht, sich als kleines Rädchen mit bescheidenen Gewinnmargen aus importierten Lebensmitteln abspeisen zu lassen. Nicht, wenn sie sich Zugang zu erheblich wertvolleren Gütern verschaffen konnte.
Als man auf dem Höhepunkt der antireligiösen Bewegung die Kirche verfolgt hatte, waren viele ihrer Kunstgegenstände - Ikonen, Bücher und Silber - versteckt worden, da man sie sonst verbrannt oder eingeschmolzen hätte. Die meisten Priester hatten Widerstand geleistet und alles unternommen, um das Erbe der Kirche zu retten. Sie hatten Kultgegenstände in Feldern vergraben, Silber in Kaminschächten gebunkert und sogar Gemälde in wasserdichtes Leder gewickelt und beispielsweise im Motor eines ausrangierten, vor sich hin rostenden Traktors versteckt. Karten wurden keine angelegt. Nur einige wenige kannten die Verstecke, die nur im Flüsterton weitergegeben wurden, immer mit den Worten:
Falls ich sterben sollte ...
Die meisten Hüter dieser Geheimnisse waren verhaftet und erschossen worden, waren in den Gulags verhungert oder hatten sich totgearbeitet. Von denen, die Bescheid wussten, war Frajera eine der Ersten gewesen, die man freigelassen hatte. Einen nach dem anderen hatte sie die Schätze ans Tageslicht geholt. Durch die wory kannte sie die Infrastruktur des schwarzen Marktes und die Leute, die man bestechen musste. So verschacherte sie die Kunstgegenstände an westliche Religionsgemeinschaften oder Privatkäufer und Museen. Manche ihrer Geschäftspartner schraken vor der Vorstellung zurück, die Schätze einer anderen Kirche aufzukaufen, aber schließlich erwies sich Frajeras knallharte Verkaufstechnik immer als erfolgreich: Wenn ihre Preisvorstellungen auf Widerstand stießen, dann konnte man eben für die Unversehrtheit der Gegenstände nicht mehr garantieren. So hatte sie einmal ihren Käufern eine Ikone des Heiligen Nikolaus von Moschaisk geschickt. Einst war sie in kräftigen Farben gemalt worden, doch die Temperafarbe war mit der Zeit verblasst, und um den Glanz wiederherzustellen, hatte man sie mit Blattgold und Silber belegt. Frajera hatte sich vorgestellt, wie die Priester geweint hatten, als sie das Paket geöffnet und nur noch Bruchstücke der Ikone vorgefunden hatten, das Gesicht des Heiligen bis auf die Augen heruntergekratzt. Etwas damit zu tun zu haben hatte sie allerdings bestritten, sondern im Interesse funktionierender Geschäftsbeziehungen diesen Akt des Vandalismus stattdessen fanatischen Parteimitgliedern in die Schuhe geschoben. Danach hatte sie einfach nur noch den Preis nennen müssen und sich überdies nicht etwa als Profiteurin, sondern als Retterin dargestellt.
Bezahlt wurde in Gold. So lieferte Frajera ihren wory die Reichtümer, die sie ihnen immer versprochen hatte. Die Kunstschätze barg sie einen nach dem anderen - für den Fall, dass jemand sie für überflüssig halten sollte. Weil sie vorsichtig war und niemandem traute, war das Erste, wofür sie Geld ausgab, ein mit Zyanid gefüllter Zahn, den sie ihren Männern stolz vorführte. Wenn einer glaubte, dass man die Verstecke der übrigen Kunstschätze durch Folter aus ihr herauspressen konnte, dann hatte er sich geschnitten. Noch im Tod würde sie ihre Pläne durchkreuzen. Nach der Reaktion ihrer Bande zu urteilen, hatten zwei der Männer offenbar tatsächlich etwas Ähnliches im Sinn gehabt. Noch vor Ablauf der Woche hatte Frajera sie umgebracht.
Danach war nur noch
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