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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Meter abgesenkt und behinderte die Sicht. Silbrige Tröpfchen hingen in der Luft, halb Nebel, halb Eis und halb Zauberei. Nur meterweise tauchte die eintönige Landstraße daraus hervor wie ein grauer, holpriger Teppich, der sich vor ihnen entrollte. Der Lastwagen kam nur langsam voran. Entnervt von dieser zusätzlichen Verzögerung sah Timur auf die Uhr, er hatte vergessen, dass sie ja gar nicht mehr funktionierte. Im Sturm war sie kaputtgegangen und umschloss nun nutzlos sein Handgelenk, das Glas zersprungen und das Uhrwerk vom Salzwasser lahmgelegt. Er fragte sich, ob sie wohl sehr beschädigt war. Sein Vater hatte behauptet, sie sei ein Familienerbstück. Timur vermutete, dass das gelogen war, denn sein Vater war ein stolzer Mann gewesen und hatte wahrscheinlich nur darüber hinwegtäuschen wollen, dass er seinem Sohn zum achtzehnten Geburtstag lediglich eine zerbeulte Uhr aus zweiter Hand schenken konnte. Aber gerade wegen und nicht trotz dieser Lüge war die Uhr zu Timurs größtem Schatz geworden. Wenn sein ältester Sohn achtzehn wurde, wollte Timur sie ihm schenken, allerdings hatte er sich noch nicht entschieden, ob er ihm die sentimentale Bedeutung der Lüge erklären oder einfach nur den Herkunftsmythos der Uhr weitertragen sollte.
    Trotz der Verzögerung war Timur sehr erleichtert, dass er es immerhin hatte verhindern können, über das Ochotskische Meer zurück nach Buchta Nachodka geschickt zu werden. Gestern Abend waren sie an Bord der Stary Bolschewik gewesen, die zum Auslaufen bereit war. Der Frachtraum war repariert und das Wasser abgepumpt worden, dann hatte man die gerade entlassenen Gefangenen eingeladen, auf deren Gesichtern immer noch die Ratlosigkeit über ihre Freiheit gestanden hatte. Ohne einen Ausweg aus seiner misslichen Lage zu sehen, hatte Timur wie gelähmt an Deck gestanden und beobachtet, wie die Hafenmannschaft die Leinen losgemacht hatte. In wenigen Minuten würde das Schiff in See stechen, und er hätte keine Chance, vor Ablauf von Wochen den Gulag 57 zu erreichen.
    Völlig verzweifelt war er zur Kapitänsbrücke gelaufen in der Hoffnung, dass ihm angesichts der dringenden Umstände schon eine plausible Geschichte einfallen würde. Als der Kapitän sich zu ihm umgedreht hatte, war es aus ihm herausgeplatzt: »Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss.«
    Aber was? Timur war kein guter Lügner, und jetzt erinnerte er sich an die alte Weisheit, immer so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich bin eigentlich gar kein Wärter. Ich arbeite für den MVD. Man hat mich geschickt, um zu überprüfen, ob die nach Chruschtschows Rede beschlossenen Änderungen im System auch tatsächlich umgesetzt werden. Davon, wie dieses Schiff geführt wird, habe ich nun ja schon genug mitbekommen.«
    Bei der Erwähnung der Rede erblasste der Kapitän. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
    »Ich fürchte, der Inhalt meines Berichts ist geheim.«
    »Aber die Dinge, die auf dem Hinweg passiert sind, waren doch nicht meine Schuld. Erwähnen Sie das bitte, falls Sie einen Bericht darüber schreiben, wieso ich die Kontrolle über das Schiff verloren habe.«
    Timur staunte nicht schlecht, welche Macht ihm seine Ausrede plötzlich verliehen hatte.
    Der Kapitän war ganz dicht herangekommen und sprach mit flehentlicher Stimme weiter. »Niemand hätte doch voraussehen können, dass die Trennwand kaputtgehen würde. Bitte lassen Sie mir meine Arbeit. Ich finde doch keine andere mehr. Wer würde denn noch mit mir arbeiten wollen, wenn er erfährt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdient habe? Als Kapitän eines Gefängnisschiffes? Alle würden mich verabscheuen. Das hier ist der einzig richtige Ort für mich. Hier gehöre ich hin. Bitte! Ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll.« Die Verzweiflung das Kapitäns wurde geradezu peinlich.
    »Der einzige Grund, warum ich Ihnen das erzählt habe, ist, dass ich die Rückreise nicht antreten kann. Ich muss mit dem Regionaldirektor Abel Present sprechen. Sie werden auf dem Schiff ohne mich klarkommen müssen. Erzählen Sie der Mannschaft irgendeine Ausrede, warum ich nicht da bin.«
    Der Kapitän grinste verschwörerisch und verneigte sich.
    Als er von Bord ging und den Hafen betrat, beglückwünschte Timur sich dafür, dass er rein zufällig auf eine derart durchschlagende Ausrede gekommen war. Zuversichtlich betrat er den Verwaltungstrakt des Durchgangslagers und erklomm die Treppe zum Büro des Regionaldirektors Abel Present, des Mannes, der ihn auf die Stary

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