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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Sie ist nicht mehr die Frau, an die Sie sich erinnern, Lasar. Sie hat meine Tochter entführt. Wenn ich es nicht schaffe, Sie hier rauszuholen, wird Frajera sie umbringen. Sie haben nicht die geringste Chance, jemals freigelassen zu werden. Wenn Sie meine Hilfe nicht annehmen, werden Sie hier sterben.«
    Die Menge war empört über solche Worte und stand kurz vor einem erneuten Gewaltausbruch. Sträflinge sprangen auf und kreisten ihn ein, um über ihn herzufallen. Doch Lasar hob eine Hand und beorderte sie zurück. Offensichtlich genoss er bei den Männern einiges Ansehen, denn sie gehorchten ohne Murren und kehrten auf ihre Kojen zurück. Lasar winkte den Rothaarigen zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann nickte zustimmend.
    Als Lasar geendet hatte, wandte sich der Rothaarige in selbstherrlichem Ton an Leo. »Du bist ein verzweifelter Mann. Du würdest alles sagen. Du bist ein Lügner. Du warst immer schon ein Lügner. Einmal hast du mich hereingelegt. Ein zweites Mal gelingt dir das nicht.«
    Mit Skepsis hatten sie gerechnet. Wenn Timur jetzt da gewesen wäre, hätte er als Beweis, dass sie lebte, Frajeras Brief vorzeigen können. Sie hatte ihn geschrieben, um genau diese Zweifel auszuräumen. Aber Timur war nicht da. Ohne den Brief war Leo hilflos. Verzweifelt sagte er: »Lasar, Sie haben einen Sohn.«
    In der Baracke wurde es still. Lasar fing an zu zittern, so als stecke etwas in ihm, das herauswollte. Er öffnete den Mund zu einer verzerrten Grimasse, und trotz seines Zorns war das Wort, das er stammelte, kaum zu hören. »Nein!«
    Seine Stimme war ebenso entstellt wie seine Wange, nur mehr ein Krächzen. Der Schmerz, den ihn nur dieses eine Wort gekostet hatte, hatte ihn erschöpft. Man brachte ihm einen Stuhl, auf den er sich setzte und sich den Schweiß aus dem blassen Gesicht wischte. Weil er nicht weiterreden konnte, gab er dem Rothaarigen ein Zeichen, der nun zum ersten Mal im eigenen Namen sprach. »Lasar ist unser Priester. Wir sind seine Gemeinde. Ich bin seine Stimme. Hier kann er von Gott reden, ohne befürchten zu müssen, dass er etwas Falsches sagt. Der Staat kann ihn nicht ins Gefängnis stecken, wenn er schon drin ist. In der Gefangenschaft hat er die Freiheit gefunden, die man ihm draußen nicht gewähren wollte. Mein Name ist Georgi Wawilow. Lasar ist mein Mentor, wie er einst auch deiner zu sein versuchte. Ich allerdings würde eher sterben, als ihn zu verraten. Ich verachte dich.«
    »Dich kann ich auch hier rausholen, Georgi.«
    Der Rothaarige schüttelte den Kopf. »Du weidest dich an den Schwächen der Menschen. Ich will nirgendwo anders sein als an der Seite meines Meisters. Lasar hält es für göttliche Gerechtigkeit, dass du zu ihm geschickt wurdest. Dein Urteil soll gesprochen werden, und zwar von den Menschen, die du einst selbst hast verurteilen lassen.«
    Lasar wandte sich an einen alten Mann, der ganz hinten an der Wand der Baracke stand und sich bisher aus dem Geschehen herausgehalten hatte. Er bedeutete ihm vorzutreten. Der Mann gehorchte und kam mit langsamen, unsicheren Schritten nach vorn. Dann wandte er sich an Leo. »Vor drei Jahren habe ich den Mann wiedergetroffen, der mich verhört hatte. Genau wie dich hatte man ihn ins Gefängnis gesteckt, wohin er selbst so viele geschickt hatte. Wir überlegten uns eine Strafe für ihn. Wir machten eine Liste aller Foltermethoden, die wir alle zusammengenommen hatten erdulden müssen und für die es keines besonderen Aufwands bedurfte. Dabei kamen wir auf über hundert. Jede Nacht haben wir den Agenten einer dieser Methoden unterzogen, die ganze Liste durch, eine Folter nach der anderen. Wenn er sie alle überlebte, würden wir ihn am Leben lassen. Wir wollten ihn nicht umbringen. Wir wollten nur, dass er jede Folter am eigenen Leib spürte. Deshalb haben wir ihn auch daran gehindert, sich zu erhängen. Wir haben ihm zu essen gegeben. Wir haben ihn bei Kräften gehalten, damit er weiter leiden konnte. Er kam nur bis Nummer dreißig, dann ist er absichtlich an den Rand der Zone gelaufen und von den Wachen wegen Fluchtversuchs erschossen worden. Die Folter, die er mir hat angedeihen lassen, war die erste auf der Liste. Es wird auch deine erste Folter sein.«
    Der Alte rollte seine Hosenbeine hoch und zeigte seine Knie vor. Sie waren blaurot und schwarz und vollkommen deformiert.

Kolyma
    Dreißig Kilometer nördlich von Magadan,
    siebzehn Kilometer südlich vom Gulag 57

    10. April

    Die Wolkendecke hatte sich auf tausend

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