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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Bolschewik versetzt hatte.
    Als Timur anklopfte und eintrat, verzog Present gereizt das Gesicht. »Stimmt etwas nicht?«
    »Ich habe genug von dem Schiff gesehen, um meinen Bericht zu schreiben.«
    Wie bei einer Katze, die die Gefahr spürte, verwandelte sich Presents Körperhaltung. »Was für einen Bericht?«
    »Ich bin vom MVD geschickt worden, um Informationen darüber zu sammeln, wie nach Chruschtschows Rede die Reformen vorankommen. Meine Absicht war es, anonym zu bleiben, um objektiver beurteilen zu können, wie die Lager geführt werden. Nachdem Sie mich allerdings gegen meinen Befehl auf die Stary Bolschewik versetzt haben, bin ich nun gezwungen, mich zu erkennen zu geben. Es versteht sich wohl von selbst, dass ich keine Papiere bei mir trage. Das hielten wir nicht für notwendig. Wir konnten ja nicht damit rechnen, dass jemand meinen Auftrag infrage stellen würde. Wenn Sie allerdings einen Beweis brauchen: Ich kenne sämtliche beruflichen Details aus Ihrer Akte.«
    Timur und Leo hatten gewissenhaft die Unterlagen aller hiesigen Schlüsselfiguren studiert. »Sie haben fünf Jahre lang im kasachischen Karlag gearbeitet, und davor ...«
    Present unterbrach ihn höflich, indem er einen Finger hob. Seine Stimme klang gepresst, als hätten sich unsichtbare Hände um seinen blassen Hals gelegt. »Ich verstehe schon.«
    Er stand auf, legte die Hände auf den Rücken und dachte nach. »Sie sind also hier, um einen Bericht zu schreiben?«
    »Das ist zutreffend.«
    »Ich hatte schon mit so etwas gerechnet.«
    Timur nickte. Dass seine erfundene Geschichte so glaubwürdig klang, gefiel ihm sehr. »Moskau verlangt regelmäßige Evaluationen.«
    »Evaluationen ... was für ein gefährliches Wort.«
    Mit einer solch nachdenklichen und melancholischen Reaktion hatte Timur nicht gerechnet. Er versuchte, die unausgesprochene Drohung abzuschwächen. »Es geht hier nur darum, Fakten zu sammeln, um sonst nichts.«
    Present antwortete: »Ich leiste für den Staat schwere Arbeit. Ich wohne an einem Ort, wo sonst niemand leben will. Ich habe es mit den gefährlichsten Sträflingen der Welt zu tun. Ich habe Dinge erledigt, die sonst keiner machen wollte. Man hat mir beigebracht, eine Führungsperson zu sein. Dann hieß es, diese Lektionen seien falsch gewesen. Erst ist es Gesetz, bestimmte Dinge zu tun, und im nächsten Moment ist es ein Verbrechen. Erst sagt das Gesetz, dass ich streng sein soll. Dann sagt das Gesetz, dass ich nachgiebig sein soll.«
    Er hatte Timurs Lüge voll und ganz geschluckt. Schon bei der bloßen Erwähnung der Geheimen Rede duckten sie sich alle.
    Aber anders als der Kapitän flehte Present ihn nicht etwa an oder bettelte um einen günstigen Bericht. Er hing stattdessen der Erinnerung an vergangene Zeiten nach - Zeiten, in denen sein Platz im Leben und sein Auftrag noch klar gewesen waren. Timur nutzte seine überlegene Position. »Ich brauche sofort ein Fahrzeug zum Gulag 57.«
    »Selbstverständlich«, antwortete Present.
    »Ich muss unverzüglich los.«
    »Bei Nacht kann man nicht in die Berge fahren.«
    »Auch wenn es gefährlich ist, ich würde doch lieber sofort aufbrechen.«
    »Verstehe. Ich habe Sie aufgehalten, dafür entschuldige ich mich. Aber es ist einfach unmöglich. Morgen in aller Herrgottsfrühe, mehr kann ich nicht anbieten. Gegen die Dunkelheit bin ich machtlos.

    * * *

    »Wie lange noch, bis wir da sind?«, frage Timur den Fahrer.
    »Zwei, drei Stunden. Der Nebel ist ziemlich schlimm, also eher drei, würde ich sagen.« Dann lachte er und fügte hinzu: »Hab noch nie von einem gehört, der es so eilig hatte, in einen Gulag zu kommen.«
    Timur ignorierte diesen Witz und konzentrierte seine rastlose Energie darauf, noch einmal den Plan durchzugehen. Wenn er funktionieren sollte, musste er ziemlich viel Glück haben. Darauf, ob Lasar mitspielte, hatten sie keinen Einfluss. Wenigstens hatte Timur einen Brief von Frajera bei sich, den sie immer und immer wieder daraufhin überprüft hatten, ob er vielleicht irgendeine Warnung oder geheime Anweisungen enthielt. Sie hatten nichts gefunden. Frajera wusste allerdings nicht, dass Leo als zusätzliche Sicherheitsvorkehrung darauf bestand, dass sie das Foto eines siebenjährigen Jungen mitnahmen. Das abgebildete Kind war zwar nicht Lasars Sohn, aber wie sollte er das wissen? Vielleicht war der vermeintliche Anblick seines Kindes ja überzeugender als eine bloße Vorstellung von ihm. Für den Fall, dass das fehlschlug, hatte Timur immer noch eine

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