Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Sie.«
Er ging vor und sah kurz auf eine schmale, fast feminine Armbanduhr. Harry verstand die Andeutung: Ich bin ein gefragter Anwalt mit begrenzter Zeit für diese Lappalie.
Das riesige Büro roch nach Leder. Harry nahm an, dass der Geruch von den ledereingebundenen Ausgaben der Rechtszeitschriften stammte. Er nahm aber auch noch einen anderen Geruch wahr, den er kannte: das Parfüm von Silje Gravseng. Sie saß auf einem Sessel, der halb ihnen, halb Johan Krohns massivem Schreibtisch zugewandt war.
»Vom Aussterben bedroht?«, fragte Harry und fuhr mit der Hand über die Tischplatte, ehe er Platz nahm.
»Gewöhnliches Teakholz«, sagte Krohn und nahm den Chefsessel hinter dem Regenwald ein.
»Gestern noch alles normal, heute bedroht«, sagte Harry und nickte Silje Gravseng kurz zu. Sie antwortete mit einem leichten Zittern der Augenlider, als wäre ihr Kopf festgezurrt. Sie hatte ihre Haare in einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, so dass ihre Augen strenger als gewöhnlich wirkten. Sie trug ein Kostüm, in dem sie wie eine Angestellte der Kanzlei aussah, und machte einen ruhigen Eindruck.
»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Johan Krohn, der wie üblich die Fingerspitzen zusammengelegt hatte. »Fräulein Gravseng hat ausgesagt, in Ihrem Büro in der Polizeihochschule gegen Mitternacht des angegebenen Datums von Ihnen vergewaltigt worden zu sein. Die vorläufigen Beweise sind Kratzspuren, blaue Flecken und ein zerrissenes Kleid. All das wurde fotografisch dokumentiert und kann vor Gericht zu Beweiszwecken herangezogen werden.«
Krohn sah zu Silje, als wollte er sich vergewissern, dass sie seine Ausführungen verkraftete, ehe er fortfuhr.
»Die ärztlichen Untersuchungen in der Notaufnahme haben zwar keine Verletzungen im Bereich des Unterleibs ergeben, aber die sind ohnehin selten. Selbst bei brutalen Vergewaltigungen ist nur in fünfzehn bis dreißig Prozent aller Fälle etwas nachzuweisen. In der Scheide konnte kein Sperma festgestellt werden, da Sie geistesgegenwärtig genug waren, außerhalb zu ejakulieren, genauer gesagt auf Fräulein Gravsengs Bauch. Danach haben Sie gewartet, bis sie sich wieder angezogen hatte, bevor Sie sie zum Ausgang gezerrt und vor die Tür gesetzt haben. Bedauerlicherweise hat sie nichts von dem Sperma als Beweis gesichert, sondern stattdessen stundenlang weinend unter der Dusche gestanden, um alle Spuren des Übergriffes abzuwaschen, eine durchaus verständliche und sehr normale Reaktion der jungen Frau.«
Krohn hatte ein entrüstetes Zittern in der Stimme, das Harry nicht echt vorkam, aber er wollte ihm wohl zeigen, wie effektvoll sich dieser Teil der Geschichte vor Gericht ausschlachten ließe.
»Alle Angestellten der Notaufnahme sind bei Vergewaltigungen angehalten, ein paar Zeilen über die psychische Reaktion des Opfers festzuhalten. Wir reden hier von Fachleuten, die Erfahrung mit Vergewaltigungsfällen haben, und diese Beschreibungen haben vor Gericht natürlich Gewicht. Ich will an dieser Stelle nur so viel sagen, dass ihre Beobachtungen die Aussagen meiner Klientin stützen.«
Ein fast schon bedauerndes Lächeln huschte über das Gesicht des Anwalts.
»Aber ehe wir detailliert auf die Beweise eingehen, sollten wir vielleicht erst einmal klären, ob Sie über meinen Vorschlag nachgedacht haben, Hole. Wenn Sie zu dem Schluss gekommen sind, dass unser Angebot der richtige Weg ist – was ich für alle Beteiligten hoffe –, kann ich Ihnen die Vereinbarung nun auch schriftlich vorlegen. Und natürlich wird das Ganze vertraulich behandelt.«
Krohn reichte Harry eine braune Ledermappe, wobei er vielsagend zu Arnold Folkestad sah, der langsam nickte.
Harry öffnete die Mappe und überflog das A4-Blatt.
»Hm, ich kündige an der PHS und halte mich von jedweder Polizeiarbeit fern. Und rede nie wieder mit oder über Silje Gravseng. Wie ich sehe, ist alles schon bereit für eine Unterzeichnung.«
»Der Fall ist ja nicht gerade kompliziert, wenn Sie also das Für und Wider abgewogen haben und zu dem Schluss gekommen sind, dass …«
Harry nickte. Sah zu Silje Gravseng, die steif wie ein Stock dasaß und ihn ausdruckslos ansah.
Arnold Folkestad räusperte sich leise, und Krohn richtete einen freundlichen Blick auf ihn, während er wie zufällig auf seine Armbanduhr blickte. Arnold reichte ihm eine gelbe Pappmappe.
»Was ist das?«, fragte Krohn mit hochgezogenen Augenbrauen und nahm sie entgegen.
»Unser Vorschlag einer Vereinbarung«, sagte Folkestad.
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