Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
hatte, nahm er selbst wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein. Stavnes ging in eine Ecke des Raumes, um sich schnell ein trockenes T-Shirt aus seinem Rucksack anzuziehen. Ståle nutzte die Gelegenheit, um ungeniert zu gähnen, die obere Schublade herauszuziehen und sein Telefon für ihn gut sichtbar darin zu platzieren. Dann hob er den Blick. Sah den nackten Rücken seines Patienten. Seit Stavnes begonnen hatte, mit dem Fahrrad zu den Therapiesitzungen zu kommen, war es zur Routine geworden, dass er in seinem Büro das T-Shirt wechselte. Er drehte ihm dabei immer den Rücken zu. Im Gegensatz zu sonst stand aber noch das Fenster auf, an dem Harry geraucht hatte, und auf der Scheibe sah Ståle Aune die Spiegelung von Paul Stavnes nackter Brust.
Stavnes streifte das T-Shirt mit einer raschen Bewegung nach unten und drehte sich um.
»Das mit dem Beginn unserer Stunde …«
»… wird nicht mehr vorkommen. Ich werde in Zukunft besser darauf achten«, sagte Ståle.
Stavnes hob den Blick. »Stimmt was nicht?«
»Doch, doch, ich bin heute nur etwas früher als sonst aufgestanden. Können wir das Fenster offen lassen, es ist so wenig Luft hier drin.«
»Es ist viel Luft hier drin.«
»Wie Sie wollen.«
Stavnes wollte das Fenster schließen, hielt dann aber inne und starrte lange auf die Scheibe, ehe er sich langsam zu Ståle umdrehte. Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Sie kriegen keine Luft, Aune?«
Ståle Aune spürte die Schmerzen in Brust und Armen. Die bekannten Symptome eines Herzinfarkts. Nur dass das kein Herzinfarkt war, sondern reine, pure Angst.
Er zwang sich, ruhig und in der üblichen Tonlage zu sprechen.
»Beim letzten Mal haben wir wieder darüber gesprochen, dass Sie Dark Side of the Moon gehört haben. Ihr Vater ist in das Zimmer gekommen und hat den Verstärker ausgeschaltet, und als Sie sahen, wie das rote Lämpchen langsam verblasste, starb auch das Mädchen, an das Sie gedacht hatten.«
»Ich habe gesagt, sie wurde stumm«, korrigierte Paul Stavnes ihn verärgert. »Sterben ist etwas ganz anderes.«
»Ja, da haben Sie natürlich recht«, sagte Ståle Aune und streckte seine Hand vorsichtig zu dem Telefon aus, das in der Schublade lag. »Wäre es Ihnen lieber, sie würde reden?«
»Ich weiß es nicht. Sie schwitzen, Doktor. Sind Sie wirklich okay?«
Wieder dieser spöttische Tonfall und das kleine, unangenehme Lächeln.
»Es geht mir gut, danke.«
Ståles Finger lagen auf den Tasten des Handys. Er musste seinen Patienten zum Reden bringen, damit er das Tippen nicht hörte.
»Wir haben noch nie über Ihre Ehe gesprochen. Was können Sie mir über Ihre Frau erzählen?«
»Nicht viel. Warum wollen Sie darüber reden?«
»Eine nahe Bezugsperson. Sie scheinen eine Abneigung gegen Menschen zu haben, die Ihnen nah sind. Sie verachten sie, das waren Ihre Worte.«
»Ein bisschen haben Sie also doch aufgepasst?«, kommentierte er mit einem bitteren Lachen. »Ich verachte die meisten Menschen, weil sie schwach und dumm sind und kein Glück haben.« Erneutes Lachen. »Drei Nieten aus drei Chancen. Sagen Sie mal, konnten Sie Mister X helfen?«
»Was?«
»Dem Polizisten. Diesem Schwulen, der den anderen Polizisten zu küssen versucht hat. Wurde er geheilt?«
»Wohl nicht.« Ståle Aune tippte, verfluchte seine dicken Wurstfinger, die vor Aufregung noch dicker zu werden schienen.
»Aber wenn Sie glauben, dass ich wie er bin, warum glauben Sie dann, dass Sie mir helfen können?«
»X war schizophren, er hat Stimmen gehört.«
»Und Sie glauben, um mich steht es besser?« Der Patient lachte bitter, während Ståle tippte, Buchstaben um Buchstaben, und dabei versuchte, die Tastengeräusche mit dem Reiben seiner Schuhsohlen auf dem Boden zu übertönen. Diese verdammten Finger. Dann wurde ihm bewusst, dass der Patient zu sprechen aufgehört hatte. Paul Stavnes, oder wie auch immer er hieß. Neue Namen konnte man sich ebenso leicht zulegen, wie man alte loswurde. Mit Tätowierungen war das viel schwerer. Besonders wenn sie groß waren und die ganze Brust bedeckten.
»Ich weiß, warum Sie schwitzen, Aune«, sagte der Patient. »Sie haben mein Spiegelbild im Fenster gesehen, als ich mich umgezogen habe, nicht wahr?«
Die Schmerzen in Ståle Aunes Brust wurden noch stärker, als könnte das Herz sich nicht entscheiden, ob es schneller oder gar nicht mehr schlagen sollte. Er hoffte nur, dass sein Gesicht so verständnislos aussah, wie es aussehen
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