Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
T-Shirts, weite Hosen, Nerdbrillen, Retro-Daunenjacken oder Militärjacken. Diese offensichtliche Stilsicherheit sollte die eigene Unsicherheit, die Angeberei und die Furcht, sozial oder fachlich zu versagen, überspielen. Auf jeden Fall aber waren sie froh, nicht zu den armen Schweinen auf der anderen Seite des Platzes zu gehören, auf die Katrine jetzt zusteuerte.
Einige kamen gerade durch das Tor vor dem Schulgebäude, das wie ein Gefängnis aussah: Die Studenten trugen schwarze Polizeiuniformen, die immer ein bisschen zu groß wirkten. Schon von weitem konnte man sehen, wer Student im ersten Jahr war; dann versuchte man noch, die Uniform auszufüllen, außerdem hatten sie die Mützen immer zu tief in die Stirn gezogen. Entweder, um die eigene Unsicherheit zu kaschieren oder die verächtlichen, mitleidigen Blicke der Studenten auf der anderen Seite des Platzes abzuschirmen. Der richtigen Studenten, der freien, selbständigen, systemkritischen und intellektuellen Menschen.
Sie lagen in der Sonne auf der Treppe, wirkten in ihrer Versunkenheit irgendwie erhöht, inhalierten grinsend den Rauch ihrer Selbstgedrehten, von denen die Polizeistudenten ganz genau wussten, dass es durchaus auch Joints sein konnten .
Die da drüben waren wirklich jung, sie waren die neue Generation, die Crème de la Crème der Gesellschaft, und sie hatten noch das Recht, Fehler zu machen, denn die wahren Entscheidungen ihres Lebens lagen noch vor ihnen.
Aber vielleicht hatte auch nur Katrine das so empfunden, als sie hier studiert hatte. Damals hatte sie auf jeden Fall immer den Drang verspürt, laut über den Platz zu schreien, dass sie keine Ahnung hatten, wer sie war, warum sie sich für die Polizei entschieden hatte und was sie aus dem Rest ihres Lebens machen wollte.
Der alte Wachmann Karsten Kaspersen stand noch immer in dem Wachhäuschen hinter der Tür, verriet aber mit keiner Miene, ob er Katrine Bratt wiedererkannte, als er mit einem kurzen Nicken einen Blick auf ihren Ausweis warf. Sie ging durch den Flur zum Hörsaal. Passierte die Tür des Tatortsaals, der mit diversen Stellwänden wie eine Wohnung eingerichtet war. Außerdem gab es eine Galerie, von der aus man den Kommilitonen bei Durchsuchungen, der Spurensicherung oder der Suche nach dem Tathergang zuschauen konnte.
Dann folgte die Tür des Trainingsraums mit den Matten und dem penetranten Schweißgeruch. Hier wurde ihnen die hohe Kunst eingetrichtert, wie man Leute aufs Kreuz und in Eisen legte. Sie zog sie vorsichtig auf und schlüpfte von dort durch die Tür ins Auditorium 2. Die Vorlesung war in vollem Gange, so dass sie sich zu einem freien Platz in der letzten Reihe schlich. Sie nahm so leise Platz, dass nicht einmal die beiden Mädchen in der Reihe vor ihr sie bemerkten, die aufgeregt miteinander flüsterten.
»Die hat sie doch nicht mehr alle, also wirklich. Die hat ein Bild von ihm bei sich zu Hause an der Wand hängen.«
»Echt?«
»Ja, ich hab’s selbst gesehen.«
»Mein Gott, der ist doch total alt und hässlich.«
»Findest du?«
»He, bist du blind?« Sie nickte in Richtung Tafel. Der Dozent drehte ihnen den Rücken zu und schrieb etwas an die Tafel.
»Motiv!«, sagte er und wandte sich wieder dem Auditorium zu. »Bei Mord ist die psychologische Schwelle für rational denkende und emotional normale Menschen so hoch, dass sie schon ein verdammt gutes Motiv brauchen. Gute Motive sind in der Regel leichter und schneller zu finden als Tatwerkzeuge, Zeugen oder andere Indizien. Und häufig deuten sie direkt auf einen möglichen Täter hin. Deshalb sollte sich jeder Mordermittler erst einmal die Frage nach dem Warum stellen.«
Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Ein bisschen wie ein Schäferhund, der seine Herde zusammenhielt, dachte Katrine.
Er hob einen Zeigefinger. »Die grobe Vereinfachung lautet: Finde das Motiv und du hast den Täter.«
Katrine Bratt fand ihn nicht hässlich. Er war auch nicht schön im konventionellen Sinn. Eher das, was die Engländer als acquired taste bezeichneten. Und die Stimme war wie immer, tief, warm und mit diesem irgendwie abgenutzt klingenden, heiseren Timbre, das nicht nur bei seinen blutjungen Studentinnen Wirkung zeigte.
»Ja?« Der Dozent hatte einen Augenblick gezögert, bevor er der Studentin das Wort erteilte, die ihren Arm in die Luft gestreckt hatte.
»Warum werden dann große, kostenintensive Kriminaltechnikereinheiten rausgeschickt, wenn ein brillanter,
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