Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
taktischer Ermittler wie Sie einen Fall bloß mit ein bisschen Nachdenken lösen kann?«
Es lag keine hörbare Ironie im Tonfall der Studentin, nur eine fast kindliche Aufrichtigkeit und ein leichter Akzent, der ihre Herkunft irgendwo aus dem Norden verriet.
Katrine sah ganz verschiedene Gefühle über das Gesicht des Dozenten huschen – Betroffenheit, Resignation, Ärger –, ehe er sich auf die Antwort konzentrierte.
»Weil es nie reicht zu wissen, wer der Täter ist, Silje. Als es hier in Oslo vor etwa zehn Jahren diese Reihe von Raubüberfällen gab, arbeitete im Raubdezernat eine Beamtin, die maskierte Personen anhand ihrer Gesichtsform und Silhouette erkennen konnte.«
»Beate Lønn«, sagte die junge Frau, die er Silje genannt hatte. »Die jetzige Leiterin der Kriminaltechnik.«
»Genau, und in acht der Fälle wusste das Raubdezernat daher, wer die maskierten Personen auf den Überwachungsvideos waren. Aber sie hatten keine Beweise. Fingerabdrücke sind Beweise. Eine abgefeuerte Waffe ist ein Beweis. Ein überzeugter Ermittler ist kein Beweis, egal, wie brillant sie oder er auch sein mag. Ich habe heute ein paar Vereinfachungen gemacht und eine letzte will ich noch hinzufügen: Die Antwort auf die Frage ›Warum?‹ ist ohne die Antwort auf die Frage ›Wie?‹ nichts wert – und umgekehrt. Aber dazu wird Ihnen mein Kollege Folkestad in seiner Vorlesung über technische Ermittlung mehr sagen können.« Er sah auf die Uhr. »Auf das Motiv werden wir beim nächsten Mal gründlicher eingehen, aber für eine kleine Geschmacksprobe reicht die Zeit noch. Warum bringen Menschen andere Menschen um?«
Er schaute wieder auffordernd in die Menge. Katrine bemerkte, dass zu der Narbe, die sich wie eine Furche vom Mundwinkel bis zum Ohr zog, noch zwei weitere, neue Narben hinzugekommen waren. Die eine sah aus wie ein Messerstich in den Hals, die andere an der Seite seines Kopfes, etwa in Höhe der Augenbrauen, könnte von einer Kugel stammen. Ansonsten sah er aber besser aus als je zuvor. Die einhundertdreiundneunzig Zentimeter hohe Gestalt wirkte schlank und frisch, und in den blonden, kurzgeschnittenen Haaren war nicht eine graue Strähne zu erkennen. Und sie bemerkte auch, dass er austrainiert war und wieder etwas Fleisch auf den Knochen hatte. Das Wichtigste von allem war aber, dass aus seinen Augen wieder Leben strahlte. Das Wache, Energische, fast schon Manische war wieder da. Und die Lachfalten und die offene Körpersprache hatte sie so an ihm noch nie gesehen. Man könnte fast den Verdacht bekommen, er lebte ein gutes Leben. Was – sollte es wirklich so sein – das erste Mal der Fall wäre, seit Katrine ihn kannte.
»Weil jemand einen Nutzen daraus zieht«, antwortete eine junge Männerstimme.
Der Dozent nickte zustimmend. »Sollte man meinen, nicht wahr? Aber Mord als Gewinndelikt ist eher die Ausnahme, Vetle.«
Eine kläffende Stimme im Sunnmøre-Dialekt: »Weil sie jemanden hassen?«
»Mord aus Leidenschaft schlägt Alling vor«, sagte er. »Eifersucht. Zurückweisung, Rache. Ja, definitiv. Noch andere Motive?«
»Weil man verrückt ist.« Der Vorschlag kam von einem großgewachsenen jungen Mann mit gebeugtem Rücken.
»Das heißt nicht verrückt , Robert.« Das war wieder die junge Frau. Katrine sah nur ihren blonden Pferdeschwanz, der über der Rückenlehne des Stuhls baumelte. »Das heißt …«
»Ist schon gut, wir wissen, was Sie meinen, Silje.« Der Dozent hatte sich vorn aufs Pult gesetzt, die langen Beine vor sich ausgestreckt und die Arme vor dem Glasvegas-Logo auf seinem T-Shirt verschränkt. »Ich persönlich finde verrückt eine sehr passende Bezeichnung. Ein sonderlich typisches Motiv für einen Mord ist es aber nicht. Wobei es natürlich Leute gibt, die einen Mord an sich schon als Beweis dafür ansehen, dass jemand verrückt ist. Aber eigentlich sind die meisten Morde rational. Wie es durchaus rational ist, sich materielle Vorteile verschaffen zu wollen, ist es ebenso rational, nach emotionaler Erlösung zu streben. Ein Mörder stellt sich vielleicht vor, dass er durch den Mord die Schmerzen betäuben kann, die er infolge von Hass, Furcht, Eifersucht oder Erniedrigung empfindet.«
»Aber wenn Mord rational ist …«, meldete sich der erste junge Mann wieder. »Können Sie mir sagen, wie viele zufriedene Mörder Sie getroffen haben?«
Der Schlauberger der Klasse, tippte Katrine.
»Wenige«, sagte der Dozent. »Dass ein Mord im Nachhinein als Enttäuschung empfunden wird,
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