Koma
in dem Eckbett auszumachen. Von ihrem Standort aus war nichts weiter zu erkennen als ein dunkler Haarschopf über einem bleichen Gesicht und eine Röhre, die aus der Gegend des Mundes herausragte. Die Röhre war mit einem großen kastenförmigen Apparat neben dem Bett verbunden, aus dem ein rhythmisches Zischen kam. Die Maschine atmete für die Patientin. Ihr Körper war mit einem weißen Laken bedeckt, die Arme lagen bloß, beide im Winkel von 45 Grad zum Rumpf. In den linken Arm führte ein Infusionsschlauch, ein weiterer in die rechte Halsseite. Ein schmaler Lichtkegel, der von der Decke über dem Bett auf den Kopf und die obere Brusthälfte der Patientin fiel, erhöhte nur noch den düster-gespenstischen Eindruck. Sonst lag die ganze Ecke im Halbdunkel, Mensch und Apparate verloren sich im Schatten. Nichts deutete auf Leben, auf Bewegung hin. Es gab nur das regelmäßige Geräusch des Atemgeräts. Unter der Patientin kam ein dünner Plastikschlauch hervor, der in einen mit Markierungen versehenen Urinbehälter an der Bettkante führte.
»Außerdem müssen wir jeden Tag das Gewicht kontrollieren«, fuhr Bellows fort.
Susan nahm seine Worte kaum wahr. »Eine dreiundzwanzig Jahre alte Frau …« Das waren die Worte, die ihr wie ein endloses Echo immer wieder in den Sinn kamen. Für sie war die menschliche Tragödie wichtiger als alles andere. Alter und Geschlecht der Patientin taten ein übriges. Sie fühlte sich unmittelbar betroffen. In der naiven Verarbeitung ihres Bücherwissens hatte sie derartige medizinische Ernstfälle stets mit alten Leuten verbunden, die ihr Leben bereits hinter sich hatten.
»Wie lange liegt sie in diesem Zustand?« fragte Susan mitten in Bellows’ Lektion hinein. Sie konnte ihre Augen nicht von der Gestalt in der Ecke abwenden.
Bellows sah zu Susan auf, hatte keine Ahnung, was in ihr vorging. »Seit acht Tagen«, antwortete er, leicht gereizt durch die Störung seiner Ausführungen. »Aber das hat mit dem augenblicklichen Thema wenig zu tun, Miss Wheeler. Könnten Sie sich freundlicherweise darauf konzentrieren?«
Bellows wandte sich an die anderen: »Bis Ende der Woche erwarte ich von Ihnen allen, daß Sie die schriftlichen Flüssigkeitskontrollen führen. Also, verdammt noch mal, wo war ich stehengeblieben?« Er kehrte zu seinen Vergleichstabellen zurück, und alle außer Susan beugten sich über das Pult.
Susan aber hielt die Augen starr auf die regungslose Gestalt in der Ecke gerichtet. Im Geist ging sie die Liste ihrer Freundinnen durch, die ähnliche Eingriffe über sich hatten ergehen lassen müssen. Worin lag der Unterschied zwischen ihrem und Nancy Greenlys Schicksal? Minutenlang grübelte sie darüber nach und biß sich, eine Angewohnheit von ihr, auf die Unterlippe.
Dann platzte sie wieder in Bellows’ Theorien: »Wie konnte das passieren?«
Bellows fuhr hoch, diesmal wie von der Tarantel gestochen. Sein Blick flog durch den Raum, als drohte dort irgendwo eine Katastrophe. »Wie konnte was passieren?« fragte er hastig, obwohl er nirgends Anzeichen ungewöhnlichen Geschehens fand.
»Wie konnte es passieren, daß diese Patientin ins Koma verfiel?«
Bellows richtete sich auf, schloß die Augen und legte den Bleistift hin. Es sah aus, als zähle er bis zehn, bevor er sprach.
»Miss Wheeler, so geht das aber nicht weiter«, sagte er dann, um das richtige Quantum von Ruhe und überlegener Herablassung bemüht. »Sie müssen sich auf das konzentrieren, was ich Ihnen beizubringen versuche. Was die Patientin dort betrifft, nun ja, das war eins von diesen unerklärlichen Dingen, einfach Schicksal, muß man da wohl sagen. Verstehen Sie? Tadellose Gesundheit … Routineeingriff … Anästhesie ohne jeden Zwischenfall. Nur eben … Sie ist nicht wieder aufgewacht. Sauerstoffmangel im Hirn. Das Gehirn bekam nicht die nötige Sauerstoffzufuhr. Kapiert? Und nun lassen Sie uns weitermachen. Wir sitzen sonst den ganzen Tag an der Sache, und um zwölf ist große Visite.«
Aber Susan war nicht zu bremsen. »Treten derartige Komplikationen häufig auf?«
»Nein. Ganz im Gegenteil. Vielleicht einmal in tausend Fällen.«
»Für die Betroffene ist es aber der einzige Fall.« Susans Stimme hatte einen gefährlichen Unterton.
Bellows sah zu ihr auf, ohne zu wissen, worauf sie hinauswollte. Nancy Greenly war für ihn ein Fall, eine medizinische Aufgabe. Die menschliche Seite fiel nicht in seine Kompetenz. Bellows’ Bemühen galt dem rein physischen Ziel: Die Ionen im
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