Koma
warum, zum Teufel, ich so ein Geschöpf dann noch behandele. Aber in der Medizin sind solche Fragen fehl am Platz. Wir behandeln Lungenentzündungen, weil wir die entsprechenden Antibiotika haben.«
Im selben Moment machte sich die Ausrufanlage wieder bemerkbar, wie sie es die ganze Zeit über in unregelmäßigen Abständen getan hatte. Diesmal sagte die Stimme: »Dr. Wheeler, Dr. Susan Wheeler, bitte 938.« Paul Carpin stieß Susan an, die offenbar nichts gehört hatte, und wiederholte die Botschaft. Susan blickte erstaunt auf Bellows.
»War das für mich? Die sagten ›Dr. Wheeler‹.«
»Ich hab’ den Schwestern auf der Station eine Liste mit Ihren Namen gegeben, damit sie die Patienten unter Ihnen aufteilen. Zum Venenanzapfen und ähnlich faszinierenden Sachen werden Sie von jetzt an ausgerufen.«
»Ich muß mich erst daran gewöhnen, daß man hier Doktor genannt wird.« Susan sah sich nach dem nächsten Telefon um.
»Dann beeilen Sie sich damit; denn Sie werden immer mit Titel ausgerufen. Wir tun das nicht, um Ihnen zu schmeicheln, sondern der Patienten wegen. Sie sollten nicht vertuschen, daß Sie Studenten sind, aber es auch nicht an die große Glocke hängen. Es gibt Patienten, die würden Sie sonst nie an sich ranlassen, die würden die Bude zusammenbrüllen, von wegen Versuchskaninchen und so. Also, antworten Sie auf den Aufruf, Dr. Wheeler, und dann kommen Sie nach. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir in den Konferenzraum im zehnten Stock.«
Susan ging zum Zentralpult und wählte die Nummer 938. Bellows sah ihr nach und nahm gegen seinen Willen wahr, daß unter dem weißen Kittel eine aufreizende Figur verborgen war. Er fühlte, wie Susan Wheeler ihn mehr und mehr zu beschäftigen begann.
Montag
23. Februar
11 Uhr 40
Susan durchlebte eine Phase der Unwirklichkeit, als sie den Aufruf für »Dr. Wheeler« beantwortete. Sie kam sich wie eine Schauspielerin in der Rolle einer Ärztin vor. Sie trug einen weißen Kittel, und auch die Kulissen stimmten. Aber sie konnte sich mit ihrem Part nicht identifizieren und meinte, jeden Moment müßte jemand auftauchen und sie entlarven.
Die Stimme der Schwester am anderen Ende der Leitung klang knapp und sachlich.
»Wir brauchen eine Infusion. Ein Patient, dessen Operation sich verzögert. Und die Anästhesie sagt, er benötigt Flüssigkeit.«
»Wann soll ich sie anlegen?« fragte Susan und spielte mit der Telefonschnur.
»Jetzt!« rief die Schwester, bevor sie auflegte.
Susans Gruppe hatte sich inzwischen einem neuen Patienten zugewandt. Wieder beugten sich alle über ein Krankenblatt, das Bellows aus dem Ständer gezogen hatte. Keiner sah auf, als Susan durch das Halblicht der Intensivstation ging. Sie kam zur Tür, und ihre Hand berührte die Klinke aus rostfreiem Stahl. Langsam drehte sie den Kopf nach rechts und wagte noch einen Blick auf die regungslos daliegende Nancy Greenly. Die Patientin erschien ihr wie eine Puppe aus Fleisch und Blut, ohne jeden Hauch von Leben. Und wieder fühlte sich Susan auf seltsame Weise dem hilflosen Wesen verwandt. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich von dem Anblick loszureißen, aber als sie draußen war, spürte sie große Erleichterung.
Doch die währte nicht lange. Als sie sich an den vielen Menschen vorbei einen Weg durch den Flur bahnte, nahm sie innerlich Anlauf für die nächste Hürde. Susan hatte noch nie in ihrem Leben eine Infusion angelegt. Sie hatte mehreren Patienten und ihrer Studienkollegin im Labor Blut abgezapft, aber das war etwas anderes als eine Infusion. In der Theorie kannte sie sich aus, wußte, was verlangt war. Schließlich brauchte man nur eine rasiermesserscharfe Nadel, um die Vene zu treffen, ohne das Blutgefäß gleich ganz zu durchbohren; das hörte sich leicht an. Die Schwierigkeit bestand nur darin, daß die Venen häufig dünn wie Spaghetti waren. Und manchmal konnte man sie von außen nicht einmal sehen, mußte sich auf sein Gefühl verlassen.
Angesichts dieser potentiellen Schwierigkeiten wurde Susan klar, daß in ihrem neuen Leben sogar ein derart profaner Akt wie das Anlegen einer Infusion eine intellektuelle Herausforderung bedeutete. Wenn ihre Unerfahrenheit nur nicht zu offensichtlich hervortrat! Am Ende würde der Patient rebellieren und nach einem richtigen Arzt verlangen. Außerdem war sie keineswegs in der Gemütsverfassung, sich dem Spott der routinierten Schwestern auszusetzen.
Als Susan in Beard 5 ankam, war die Szenerie unverändert. Immer noch herrschte
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