Komische Voegel
städtebaulicher Großprojekte genau kennt, wäre es nicht schwierig vorherzusagen, welche Tierarten wo – und vielleicht sogar wann ungefähr – verschwinden werden. Dann wäre wenigstens Schluß mit dieser Fünf-vor-zwölf-Kultur, und man könnte die Alarmglocke durch einen Wecker ersetzen.
Manchmal scheinen die Zeiger der Uhr auch rückwärts zu gehen. In Cornwall war die Cornish chough ausgestorben. Für uns ist das die Alpenkrähe, aber gut, die Briten tun gern so, als gehöre eine Spezies ihnen. Der Grund ihres Verschwindens war, daß die Bauern ihre Grasfresser nicht mehr an Klippen grasen ließen, und die Alpenkrähen suchen ihre Beutetiere nur auf Böden mit kurzem Gras. Seit etwa zehn Jahren streifen nun Schottische Hochlandrinder mit sehr speziellen pflanzlichen Interessen an den Abgründen entlang, und – lo and behold – vor fünf Jahren kamen die ersten Alpenkrähen zurück. Die Population wird von chough watchers (britischen Rentnerehepaaren mit Ferngläsern und gemeinen West Highland White Terriern) vierundzwanzig Stunden am Tag bewacht. Es wird kein einziges Ei gestohlen.
Dolly und Dohle
34. Woche 2008
An einem sommerlichen Freitag nachmittag setzte mir jemand einen Graupapagei auf die Schulter, nachdem mich der Vogel schon minutenlang neugierig angestarrt hatte.
»Na, wer ist das, Dolly?« fragte das Herrchen und überließ dann dem Tier die Suche nach der Antwort. Dolly zwackte mich ins Ohr, wollte ihren Schnabel in meinen Mund schieben und fand auch das Innere meiner Nase hochinteressant. Ich hatte noch nie Bekanntschaft mit einem Papagei gemacht, und in der Gegend meines Zäpfchens begann es zu kribbeln. »Eigentlich ist Dolly wie ein kleiner Hund«, sagte ich zu Dollys Herrchen.
Am Abend darauf war ich bei der Nachbarin meines Opas zu Gast, der schon seit zwölf Jahren tot ist. Noch mehr Leute waren da, unter anderem mein kleiner Bruder, der wiederum ein Nachbar dieser Nachbarin ist. Das Wetter war schön, deshalb saßen wir draußen, tranken Bier und aßen Käsewürfel und Chips. Eine Dohle landete neben uns auf einem Auto und wurde bald ziemlich dreist. Spazierte in unseren Kreis und pickte in Schuhe und Füße. Flog dann auf und setzte sich auf die Armlehne meines Stuhls. Pickte in mein Bein, wobei sie sich auf dem schmalen Plastikrohr nur mit Mühe im Gleichgewicht hielt. Anschließend versuchte sie woanders einen Käsewürfel zu stehlen. Jemand verjagte sie. So ist es immer. Unter den Anwesenden waren auch ängstliche Frauen.
Am nächsten Morgen flog die Dohle bei meinem Bruder in die Scheune und landete auf der Werkbank. Mein Neffe und meine Nichte, beide noch klein, waren davon gar nicht begeistert und fingen an zu plärren. Mein Bruder jagte die Dohle hinaus, wir sahen sie nicht wieder. »Vielleicht war es ja Opa«, sagte er mit leichtem Bedauern in der Stimme. Er ist mal bei einem Mann gewesen, der die Aura liest. »Ja«, antwortete seine Frau, deren Aura ebenfalls gelesen worden war, »das hab ich auch schon gedacht.«
Dolly und Dohle an einem Wochenende, das berührte
mich ein wenig seltsam. Und obwohl mir völlig klar war, daß hier nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen mußte, fragte ich mich auf der Heimfahrt dauernd: Wenn die Dohle Opa ist, wer ist dann Dolly?
Seagull
35. Woche 2008
Wir waren unterwegs zu den Orkneys und machten in Inverness Station. Dort aßen wir in einem Pub und tranken dazu große Gläser lauwarme Pferdepisse. Als wir zu unserem Bed & Breakfast zurückgingen, sahen wir eine Mantelmöwe mitten auf der Straße liegen. Überfahren, dachten wir. Aber plötzlich bewegte sie ihren Kopf und strampelte kurz darauf mit den Füßen in der Luft, sie lag immer noch auf der Seite. Wir standen auf dem Gehweg und schauten zu. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, Autos aus beiden falschen Richtungen fuhren an der Möwe vorbei, manche Fahrer öffneten das Fenster und schlugen mit der Hand auf die Tür, um sie zu vertreiben. Etwas tun oder nicht? Fast hoffte ich, jemand würde sie überfahren und so von ihren Leiden erlösen. Aber plötzlich stand sie auf den Füßen, wenn sie auch nichts zu sehen schien. Die Autos wichen ihr aus.
Ein Tier in Not zu sehen gehört zu den schlimmsten Erlebnissen. Noch schlimmer wäre natürlich, wenn die eigene Mutter die Kellertreppe hinunterfiele, aber solche Vorstellungen verjagt man schnell. Und wir standen nur da, unentschlossen, untätig. Ein Auto fuhr genau auf die Möwe zu, bremste, fuhr aber weiter, zwang die Möwe
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