Komm endlich her und kuess mich!
sich vom Bildschirm ab, suchte blind eine Fluchtmöglichkeit, als sie Tom Brooks, ihren Pressesprecher, auf sich zueilen sah.
„Wir müssen uns auf Interviews vorbereiten“, meinte er, während seine Finger über sein iPad flogen.
Übelkeit stieg in ihr auf und durchdrang all die anderen aufgewühlten Gefühle in ihrem Inneren. „Jetzt schon? Wir wissen doch noch nicht einmal, wie es Rafael geht.“ Oder ob er überhaupt noch lebt.
„Genau. Die Augen der ganzen Welt richten sich auf sein Team. Kaum der richtige Zeitpunkt für einen weiteren peinlichen O-Ton“, sagte er grausam.
Sasha biss sich auf die Lippe. Ihr hitziges Dementi einer Beziehung mit Rafael vor erst einer Woche hatte das Interesse der Medien ungewollt angeheizt.
Seine Miene verfinsterte sich. „Oder willst du ewig Reservefahrerin bleiben?“
Sasha runzelte die Stirn. „Natürlich nicht …“
„Gut, denn ich habe auch keine Lust, für den Rest meiner Karriere Pressesprecher einer Reservefahrerin zu sein. Du willst einer von den Jungs sein? Hier ist deine Chance, es zu beweisen.“
„Ich muss nicht herzlos sein, um mich zu beweisen, Tom“, bemerkte sie schnippisch.
„Oh, doch. Glaubst du, irgendeiner der anderen Fahrer würde sich diese Chance entgehen lassen?“
„Welche Chance? Wir wissen nicht einmal, wie es Rafael geht!“
„Nun, du hast die Wahl. Entweder du sitzt da und drehst Däumchen, bis der Moment vorüber ist. Oder du übernimmst wortwörtlich das Steuer und machst den Gerüchten ein Ende.“
Sie brauchte nicht zu fragen, was er damit meinte. „Die Gerüchte sind mir egal. Ich bin eine gute Fahrerin …“
„Und du bist außerdem Jack Flemings Tochter und Derek Mahoneys Exfreundin. Wenn du ernst genommen werden willst, musst du aus ihrem Schatten treten.“
Während seine Finger weiter geschäftig über das iPad glitten, verspürte Sasha Unbehagen. Zwar verabscheute sie Toms Zynismus, doch sie wusste auch, dass er recht hatte.
„Der Reporter wartet schon auf uns …“
„Nein.“ Ein Blick zum Bildschirm bestärkte sie in ihrem Entschluss. „Ich gebe erst Interviews, wenn ich weiß, was mit Rafael ist.“
Zwei Krankenwagen und drei Feuerwehrautos standen jetzt um das zerstörte Fahrzeug herum. Funken sprühten, als die Feuerwehr das Fahrgestell wegschnitt.
Marco de Cervantes stand daneben, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick unverwandt auf die reglose Gestalt seines Bruders gerichtet. Sasha zog sich das Herz zusammen.
Bitte stirb nicht, Rafael.
Toms strenge Miene wurde etwas milder, als er ihrem Blick folgte. Dann beugte er sich vor und flüsterte verschwörerisch: „Das ist die Chance, auf die du gewartet hast, Sasha. Vermassle es nicht. “
Als Marco de Cervantes das Krankenzimmer der Privatklinik in Budapest betrat, drehte sich ihm vor Angst der Magen um. Er ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken, und zwang sich, ans Bett seines Bruders zu treten. Bei jedem Schritt lief der Unfall erneut vor seinem inneren Auge ab, ein lebhafter, grauenvoller Alptraum, der nicht aufhören wollte. Das ganze Blut an der Unfallstelle … so viel Blut …
Beim Anblick des weißen Lakens über der Brust seines Bruders schnürte sich ihm die Kehle zu.
Er nahm sich vor, die Krankenschwester zu bitten, es durch eine andere Farbe zu ersetzen – Grün vielleicht, Rafaels Lieblingsfarbe. Weiße Krankenhauslaken sahen zu sehr nach Tod aus.
Rafael war nicht tot. Und wenn es nach Marco ging, war es auch das letzte Mal, dass er dem Tod knapp von der Schippe gesprungen war. Genug war genug.
Er starrte in das blasse, reglose Gesicht seines Bruders. Ein Beatmungsschlauch steckte in seinem Mund.
Genug war genug.
Marco hatte einen Kloß im Hals. Im Gegensatz zu ihm war sein Bruder nicht in der Lage, sich abzugrenzen, und ließ sich von Gefühlen leiten. Bei Rafael verbanden sich Glück, Trauer, Triumph und Verlust zu einem klebrigen Brei. Fügte man ein siebenhundertfünfzig PS starkes Rennauto hinzu, entstand eine gefährliche Mischung, und er musste am Ende die Scherben aufsammeln.
Fröstelnd ergriff er Rafaels reglose Hand und beugte sich vor, bis sein Mund nur noch wenige Zentimeter vom Ohr seines Bruders entfernt war.
„Du wirst leben – hörst du mich? Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, wenn du stirbst, folge ich dir bis in die Hölle und trete dir persönlich in den Hintern“, presste er heiser hervor.
Seine Stimme stockte, und er kämpfte mit den Tränen.
Rafaels Hand
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