Komm her, Kleiner
ich Annette nicht kommen, weil ich zu beschäftigt mit dem Verpacken von Nussecken und Wurstsemmeln für die anderen Kunden war. Aber für ihren Abgang nahm ich mir immer einen Moment Zeit: zu sehen, wie sie sich umdrehte und mit präzisen, absatzklackernden Schritten verschwand, gehörte schnell zu den angenehmen Routinen meines Tages. Annette trägt immer perfekt geschnittene schwarze Jacketts zu knielangen Röcken. Sie hat perfekte Waden. Einen kleinen, runden Po, der die Schwerkraft und ihr Alter leugnet. Wenn ich abends beim Training meinen Freund Kai traf, erzählte ich manchmal von ihr.
„Sie ist so ’ne Strenge, was?“
„Kann sein. Ja, schon.“ Ich dachte einen Moment nach. „Der Glenn-Close-Typ. Nur schöner.“
„Und hoffentlich ohne die gefährliche Liebschaft, Micha!“ Er grinste breit. „Verbrenn dir deine kleinen Heterofinger nicht an so einem Geschoss.“
Ich werde nie verstehen, warum Kai immer darauf herumreitet, dass wir nicht dasselbe Beuteschema haben: Ich stehe auf Frauen, er nicht. Sollte nicht eigentlich ich ihn wie die kleine Randgruppe behandeln? „Kannst du mal diese überhebliche Art weglassen?“, knarzte ich ihn an. „Schwul sein ist kein Synonym für cool sein. Darf ich dich daran erinnern, dass normalerweise du mir mit Details aus deinem Intimleben in den Ohren liegst?“
„Nun gehört die Schneekönigin also schon zu deinem Intimleben?“ Kai grinste breit.
„Du nervst!“
Irgendwann blieb Annette nach dem Bezahlen stehen. „Können Sie nachher kurz in mein Büro kommen?“
Ich schaute sie erstaunt an.
Sie lächelte spröde. „Ich muss ein paar Bilder aufhängen und brauche Hilfe.“
„Äh … gerne.“
„Ob Sie es gerne machen, ist mir egal. Kommen Sie einfach.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um. Und wieder der perfekte Abgang. Allerdings bildete ich mir ein, dass sie sich dabei leicht in den Hüften wiegte, mit der schlafwandlerischen Sicherheit, die man bei besonders teuren Models auf dem Laufsteg sieht.
Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich darüber nachgedacht habe, was diese „Einladung“ mit sich bringen könnte. Nicht wirklich. Instinktiv aber verstand ich zum ersten Mal, wie sich die Dorfmädchen gefühlt haben müssen, wenn Murat, Kevin oder ich sie damals in den Discos zu uns heranwinkten.
Nachdem ich die Plastikkisten mit den restlichen Semmeln und Wasserfläschchen in meinen Wagen geräumt hatte, fragte ich mich bis zu ihrem Büro durch. Annette schloss die Tür hinter mir. Ich sah, dass nirgendwo Bilder auf dem Boden standen, und fühlte mich schlagartig wie Richard Gere in American Gigolo . Ich merke schließlich, wenn mich eine Frau verführen will.
„Sie sind ein gutaussehender Mann“, sagte Annette ohne Umschweife.
„Danke.“ Ich sah ihr direkt in die Augen und wusste nicht, was mich gerade mehr anmachte: sie – oder meine eigene Coolness.
„Verdient man gut mit diesen Sandwichs?“
„Es könnte mehr sein.“
„Was halten Sie von einem interessanten Angebot?“
„Viel.“
In meinem Magen begann es zu rumoren. Jeder Mann träumt von so einer Situation. Wer etwas anderes sagt, der lügt. Unauffällig sah ich mich um. Da, auf dem Tisch?
„Begleiten Sie mich heute Abend ins Kino. Ich will diesen neuen Film sehen, diesen Actionreißer mit Tom Cruise. Meine Freunde wollen den nicht sehen, der ist ihnen zu platt. Und ich hasse es, allein ins Kino zu gehen. Also?“
Ich zögerte. „Sie wollen … ein Date?“, fragte ich etwas dümmlich. Damit hatte ich nicht gerechnet. So etwas kam in meinen Phantasien nicht vor.
„Mit Ihnen?“ Ihr Lächeln war eiskalt. „Inklusive Händchenhalten und Romantik?“ Sie öffnete eine Silberdose auf ihren Schreibtisch, holte eine Zigarette heraus, zündete sie an. „Nein. Keine Sorge.“ Sie blies mir den Rauch entgegen.
„Und was wollen Sie dann?“
„Begleitung.“ Ihr Blick schien mich zu röntgen und direkt durch mein T-Shirt und meine 501 zu sehen. „Ich will, dass Sie mit mir ins Kino gehen und danach in meine Lieblingsbar auf einen Martini. Sie werden sich mit mir unterhalten und glücklich strahlen, weil ich eine Frau bin, mit der jeder Mann gerne gesehen wird. Das Ganze für 100 Euro. Wenn ich danach Lust habe, mit Ihnen zu schlafen, können wir darüber sprechen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen: Ich bin niemand, bei dem man bis zum Frühstück bleiben darf.“
Nun regte sich mein Widerstandsgeist. „Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich mit Ihnen
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