Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
Ansicht nach sind wir für Elisabeth genauso verantwortlich.«
»Stephanie, ich kann verstehen, dass Sie sich mit dieser Patientin besondere Mühe geben und nur das Beste für sie wollen. Aber hier geht es um viel mehr, unter anderem um ihre eigene Sicherheit. In der Geschlossenen wäre sie besser untergebracht.«
Stephanie fühlt, dass sie rot wird, und sie hört, wie schneidend ihre Stimme plötzlich klingt. Sie weiß, sie verhält sich unangemessen, aber sie kann sich die Worte nicht verkneifen. »Sie schlagen vor, sie einzusperren und den Schlüssel wegzuschmeißen?«
»Sie wissen, wie ich das gemeint habe. So etwas käme mir niemals in den Sinn.« Elsie klingt nicht weniger gereizt.
»Sorry«, sagte Stephanie, »es tut mir leid. Ich … ich mache mir Sorgen.«
»Wir machen uns alle Sorgen, Dr. Anderson, aber wir können uns keine persönlichen Gefühle erlauben, wo unser professionelles Urteil gefragt ist. Wir können der Patientin hier keinen vollständigen Schutz bieten, schon gar nicht langfristig, und wir dürfen nicht nur an das Wohl dieser einen Patientin denken.«
»Da haben Sie natürlich recht.«
Da haben Sie natürlich recht. Unzählige Male hatte man sie davor gewarnt, im Studium ebenso wie später in der Ausbildung. Sobald man sich persönlich zu weit einlässt, kann man nicht mehr unvoreingenommen urteilen. Selbst mit den besten Absichten kann man völlig falsche Entscheidungen treffen, wenn man sich von seinen Gefühlen leiten lässt. Stephanie spürt, dass alle, auch Stewart und Anne, der Meinung sind, dass sie falschliegt. Aber da Elisabeth nun einmal ihre Patientin ist, hat man sie trotz der Zweifel weitermachen lassen.
Und was, wenn sie sich tatsächlich irrt? Eine Fehlentscheidung kann fatale Folgen haben. Im schlimmsten Fall kann ihre Unterbringung hier Elisabeth das Leben kosten. Stephanies Urteilsvermögen ist von Arroganz getrübt, verdammt noch mal – sie denkt nicht nach, sie folgt ihrem Gefühl. Sie hat das Gefühl zu wissen, was das Beste für Elisabeth ist, diese Patientin, die kaum etwas zu ihr gesagt hat außer, sie solle abhauen. Würde sie nur ein Mal vernünftig nachdenken, könnte sie sehen, was für alle anderen längst offensichtlich ist: dass Elisabeth nicht auf sie ragiert, dass Stephanie ihr möglicherweise unsympathisch ist, dass sie ihr kein bisschen vertraut. Stephanie hat sich zu weit aus dem Fenster gelehnt – viel zu weit. Sie ist in diesem Fall die falsche Ärztin, sie denkt weder an Elisabeths Sicherheit noch an das Wohl der Mitpatienten, nicht einmal den Ruf der Klinik. Sie denkt nur an sich. An ihren Stolz.
Sie sollte sofort zu Stewart gehen und ihm erzählen, dass sie mit Elsie gesprochen, sich alles noch einmal überlegt und ihren Irrtum eingesehen hat. Sie sollte Elisabeth loslassen.
Sie durchquert den Flur. Die Tür zu Elisabeths Zimmer steht offen. Stephanie wirft einen Blick hinein. Marie sitzt am Fenster. Heute ist ein warmer Tag. Die Jalousien sind hochgezogen, die Oberlichter geöffnet. Stephanies Blick trifft auf den von Elisabeth.
Marie hebt den Kopf. »Wollen Sie …«
Stephanie zögert.
»Ich könnte einen Kaffee gebrauchen«, sagte Marie. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Okay. Klar. Ich bleibe so lange hier.«
Diesmal wählt sie den Stuhl am Fenster, nicht den am Bett. Hat Elisabeth die Veränderung bemerkt? In ihrem Gesicht ist nichts davon zu sehen.
Stephanie legt den Kopf zurück. Es ist gut, zu einer Entscheidung gekommen zu sein, sich endlich gelöst zu haben. Die Luft riecht ganz leicht nach Rosen; in diesem Jahr blühen sie spät. Alle sagen, nie hätten sie einen schöneren Herbst erlebt. Der Sommer zieht sich in die Länge. Es ist immer noch Sommer in Otago.
»Ich bin nicht hier aufgewachsen«, sagt Stephanie leise. »Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen. Ich hatte eine Kindheit, wie man sie sich nur wünschen kann. Wir Kinder konnten tun, was wir wollten. In den Bergen klettern, im See schwimmen, kilometerweit Rad fahren. Alle Sommer waren wie dieser, es war immer glühend heiß. Als ich ein Kind war, war jeder Sommer ewig.«
Sie tut, wovor man sie immer gewarnt hat. Sie verwischt die Grenzen. Verrät einer Patientin Details aus ihrem Privatleben. Aber sie kann nicht anders.
»Als ich älter wurde, habe ich so getan, als langweile mich das Leben in der Kleinstadt, wo jeder jeden kennt. Dabei hat es mir gut gefallen. Insgeheim jedenfalls. Manchmal vermisse ich das so sehr. Den Anblick des Sees am frühen
Weitere Kostenlose Bücher