Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
Morgen. Bevor wir … na ja, bevor wir umziehen mussten. Bevor wir umziehen mussten, hatte ich ein eigenes Zimmer im ersten Stock, von da aus konnte man das Wasser sehen. Ich habe die Vorhänge nie zugezogen. Ich bin eingeschlafen in dem Wissen, beim Aufwachen als Allererstes den See zu sehen.«
Elisabeth beobachtet sie. Vielleicht hört sie zu. Nun ist es ohnehin egal.
»Und dann … etwas Schreckliches ist passiert, und danach konnte ich den See nie wieder sehen oder in seine Nähe kommen, ohne dass ich daran denken musste.«
Sie schweigt. Sie betrachtet Elisabeth, über deren Gesicht die Tränen strömen. Sie gibt keinen Laut von sich, weint einfach nur still vor sich hin.
Stephanie geht zum Bett und nimmt Elisabeths Hand. »Elisabeth, bitte. Ich will Ihnen helfen.«
»Mir kann keiner helfen.«
Vielleicht ist das ihre letzte Chance. Sie muss es versuchen. »Wer ist Tracy?«
»Tracy?« Elisabeth versucht, ihre Hand wegzuziehen.
»Wer ist Tracy? Elisabeth, wer ist sie?«
»Beth. Ich heiße Beth.«
»Okay, Beth. Verraten Sie es mir.«
»Hauen Sie ab. Lassen Sie mich in Ruhe, verdammt.«
15.
A ber dann verlässt sie das Bett und erklärt sich bereit, in Stephanies Sprechzimmer zu kommen. Es hat fast zwei Wochen gedauert, aber Stephanie wertet es als kleinen Sieg. Nun muss sie Beth nur noch davon überzeugen, leben zu wollen.
»Beth«, sagt sie, »kommen Sie rein!«
Beth setzt sich auf die Stuhlkante. Der Verband ist weg, an ihrem Handgelenk klebt nur noch ein Pflaster.
Stephanie spricht mit sanfter Stimme, sie ist auf der Hut. »Wie schön, dass Sie gekommen sind.«
Elisabeth zuckt die Achseln, schaut aus dem Fenster.
Stephanie hat gelernt zu warten, das Schweigen nicht zu fürchten. Lass den Patienten reden, übertrage dem Patienten die Verantwortung. Aber das Schweigen dauert an, und Beth bewegt sich keinen Millimeter, bis Stephanies Intuition ihr schließlich sagt, dass sie Beth nur helfen kann, wenn sie ehrlich zu ihr ist. Offen und ehrlich.
»Wahrscheinlich sind Sie der Ansicht, ich habe vehindert, was Sie sich antun wollten«, sagt Stephanie. »Und jetzt denken Sie, ich wolle Sie zum Reden bringen.«
Beth sieht sie fragend an.
»Sie haben recht«, sagt Stephanie. »Ich gehöre zu den Leuten, die Ihre Persönlichkeitsrechte beschnitten haben. Sie haben beschlossen, sich das Leben zu nehmen, und wir haben Ihren Plan vereitelt und Sie zum Weiterleben gezwungen. Wir geben Ihnen Medikamente, die Sie nicht wollen, und wir halten Sie davon ab, Ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, so als respektierten wir Ihre Wünsche nicht.«
Beth starrt sie an, ihre Hände umklammern die Armlehnen.
Komm, Beth, sprich mit mir. Schrei mich an. Sag irgendwas.
»Ich weiß, dass Sie einen Schmerz fühlen, der so stark ist, dass Sie nicht mehr damit leben wollen. Ich bin mir aber sicher, irgendwann werden Sie wieder leben wollen.«
»Wozu leben?«
Beth wirkt spöttisch und leicht amüsiert. So als wisse Stephanie gar nicht, wovon sie spricht. So als sei sie wie alle anderen, so als halte sie es für selbstverständlich, leben zu wollen und so zu tun, als gäbe es nichts Schreckliches auf dieser Welt. So als sei das Leben lebenswert. Wobei jeder Blinde sehen kann, dass das Gegenteil der Fall ist.
»Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen, genau das herauszufinden?«
»Ich will Ihre Hilfe nicht. Ich will nicht einmal hier sein. Hören Sie, ich hatte einfach keine Lust mehr, auf der Welt zu sein. Ich habe diese Entscheidung getroffen, das waren meine Gefühle. Das war ich, können Sie das nicht verstehen? Das war ich. Und Sie haben mich gezwungen, hier zu bleiben, und dann so mit Drogen vollgepumpt, dass ich gar nichts mehr fühle. Ist es das, was Sie wollen? Mich unter Drogen zu setzen, bis ich glaube, im Schlaraffenland zu sein?«
»Nein, das will ich nicht. Aber genauso wenig möchte ich, dass Sie leiden.«
»Es ist mein Leid, okay? Mein Leid, meine Gefühle, und niemand darf sie mir wegnehmen, verdammt.«
»Ich will Ihnen gar nichts wegnehmen, ich will nur, dass Sie es wenigstens versuchen.«
»Sie wollen. Dad will. Peter will. Warum fragt keiner, was ich will?«
»Sie haben das Gefühl, keiner würde sich dafür interessieren?«
»Hören Sie mit dem Mist auf. Alles zu wiederholen, was ich sage. Ich weiß, was Sie mit dem Scheiß bezwecken. Hören Sie, ich will jetzt gehen. Das ist reine Zeitverschwendung. Sie nehmen mir meine Rechte, und dann …« Sie schreit, geht rückwärts auf die Tür zu.
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