Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
misshandelten Kinder. Nahaufnahmen von verletzten Armen und Beinen. Die Narben von Zigarettenkippen, die geschwollenen Gesichter, die gebrochenen Knochen. Die Erläuterungen der Dozentin, vorgebracht in einem nüchternen, sachlichen Ton. Spekulationen über den Ursprung der Verletzung, die Erläuterungen der Maßnahmen, die im Verdachtsfall einzuleiten waren und glauben Sie mir, im Laufe Ihres Berufslebens werden Sie es immer wieder mit solchen Fällen zu tun bekommen. Die Bilder, die Worte, die Stephanie zu verdrängen versuchte.
Gemma ist ertrunken.
Inzwischen gießt es wie aus Kübeln. Stephanie ist in einem Park, sie kauert auf dem Rasen, während der Regen herunterpeitscht, ihr Haar und ihre Kleider durchnässt. Der Regen ist eiskalt, sie kann nicht mehr stehen, kann sich nicht bewegen, aus ihrem Mund dringen Laute, sie steigen in ihrer Kehle auf und bringen sie zum Würgen, fast muss sie kotzen nein nein nein.
Die Polizei wird ihr helfen. Gemmas Akte ist noch nicht geschlossen. Aber was soll sie sagen? Dass sie einen Mann verdächtigt, für das Verschwinden von zwei kleinen Mädchen verantwortlich zu sein, bloß dass es sich beim zweiten Fall offiziell um einen Unfall handelte?
Sie hat keine Beweise. Sie hat gar nichts. Klar, sie kann sich nur zu gut vorstellen, wie sie mit nassen Haaren und durchweichten Klamotten und quietschenden Schuhen in die Wache gestürmt kommt und zu stottern anfängt – wäre sie überhaupt in der Lage, ihre Gedanken in Worte zu fassen? –, nur um den reinsten Unsinn zu erzählen.
Wo war Ed Black an jenem Tag? Wo war er? Der Himmel, der See, die Sonnenschirme, die Kinder, die Badetücher. Wo war er?
Lisa.
Lisa trägt einen gelben Bikini. Sie hat sich den weißen Sonnenhut mit der breiten Krempe tief ins Gesicht gezogen. Er liegt neben ihr. Er schaut auf den See hinaus. Er trinkt Bier aus der Flasche.
War er da, als sie Gemma nicht finden konnten? Half er bei der Suche? Stephanie weiß es nicht mehr, sie erinnert den Tag nur noch bruchstückhaft, Bilder zucken ihr durch den Kopf wie Filmausschnitte, einige passen zusammen, andere scheinen aus dem Zusammenhang gerissen. Nick Baker. Die Umkleiden. Durch die Kiefern zum Parkplatz.
Warum hatte sie sich nicht beeilt? Hätte sie Gemma rechtzeitig gefunden, wenn sie sich beeilt hätte?
Die Pattersons. Mr. Peters’ neugieriger Blick. Dad, wie er aus dem Auto steigt. Minnas ängstliche, heisere Schreie.
Den nächsten Tag nimmt sie sich frei. Sie hat Migräne und kann nicht aufstehen. Zitternd liegt sie im Bett.
21.
S ie ist ausnahmsweise pünktlich. Es ist elf Uhr vormittags, das Café füllt sich langsam. Stephanie und Minna sitzen am Fenster. Das Café liegt im Souterrain, in Höhe ihrer Köpfe eilen Passanten vorbei. Minna linst hinauf und kneift die Augen zusammen. »Alle tragen Schwarz«, sagt sie, »Schwarz, Schwarz, Schwarz.«
Auch Stephanie trägt Schwarz. Einen schwarzen Wollmantel, einen schwarzen Rock, schwarze, flache Schuhe. »Ist so schön unkompliziert«, sagt sie.
»Unkompliziert?« Minna zieht die Augenbrauen hoch.
»Nicht alle Leute befassen sich zwanghaft mit ihrer Kleidung«, sagt Stephanie.
»Wer ist hier zwanghaft?«
Sie bestellen Kaffee. Stephanie will einen Milchkaffee, während Minna die Karte studiert und schließlich einen schwarzen Kaffee bestellt aber bitte mit Milch, extra, und kalt soll sie sein, okay?
Sie schweigen. Stephanie sieht zu den vorbeieilenden Fußgängern hinauf. Minna greift zum Handy, liest eine SMS, schaltet das Gerät aus.
»Man sollte meinen, die kriegen das im Büro ohne mich hin. Allein heute Morgen haben sie mir schon sechs Nachrichten geschickt. Wenn ich das nächste Mal verreise, lasse ich das Handy zu Hause.«
»Wie schön, unersetzlich zu sein«, sagt Stephanie schnippisch.
»Wie bitte?«
»Du hast mich gehört. Wie schön, unersetzlich zu sein.«
»Was willst du damit sagen, Steph? Ich habe das Gefühl, du willst mir damit zeigen, dass ich für dich alles andere als unersetzlich bin?«
»Ich habe das Gefühl, du bist überempfindlich. Bist du aber nicht, oder?«
Minna holt tief Luft. Der Kellner bringt den Kaffee, und sie greift nach ihrer Tasse. »Ich habe mich gefreut, als du um ein Treffen gebeten hast.«
Stephanie zuckt die Achseln. Sie weiß jetzt schon, dass sie einen Fehler gemacht hat. Dabei hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass Minna noch in der Stadt war; sie hat sie aus reiner Ratlosigkeit angerufen, weil sie Antworten braucht, weil sie reden
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