Komm stirb mit mir: Thriller (German Edition)
rieb sich mit dem Ärmel über den Mund. Sie weiter festhaltend, schaute er hoch in den Himmel, der bis auf ein paar Wolkenfetzen klar war und voller Sterne. Er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Er war so dicht dran. Er wollte den Augenblick in die Länge ziehen, ihn in sein Gedächtnis brennen wie schon zuvor. Der Mond stand hoch am Himmel, und als er hinter einem Wolkenschleier hervorkam, schien er auf die Brücke herab wie ein Scheinwerfer. Er betrachtete Yolanda. Ihre Augen waren fest geschlossen, ihr Atem kaum spürbar. Sie kriegte nicht mehr mit, was um sie herum geschah. Das Mondlicht tauchte ihre Haut in ein seltsam bläuliches Weiß, und sie sah unwirklich aus wie eine Puppe.
Das Blut raste ihm durch die Adern. Er konnte kaum noch an sich halten. Er war fast da. Fast. Blieb nur noch eines zu tun. Er zog die alte Schneiderschere seiner Großmutter aus der Tasche, legte Yolandas Kopf an seine Schulter wie den eines schlafenden Kindes und schnitt ihr eine lange, dicke Haarlocke ab, die er zusammen mit der Schere in die Tasche stopfte. Es war so weit. Er hob sie hoch und setzte sie aufs Brückengeländer, er hielt sie an den Oberarmen fest, damit sie nicht zu früh ins Wasser stürzte. Ihr Kopf kippte nach vorn, und das Haar fiel ihr übers Gesicht und verdarb alles. Er wollte ihr Gesicht sehen. Er legte ihr die Hand an den Hinterkopf, strich ihr das Haar nach hinten und sah sie an, er konnte sich kaum noch zügeln. Er wollte sich dieses Bild ins Gedächtnis brennen. Sie war so still. So totenstill.
Die Erregung schwoll an wie eine Flut, er schloss die Augen und atmete tief durch. Eine flüchtige Erinnerung an Hitze und einen Garten im Hochsommer schoss ihm durch den Kopf. Ein intensiver, süßlicher Geruch erfüllte die Luft. Der Duft von Levkojen, oder waren es Gardenien? Ein berauschender Duft. Genau wie beim letzten Mal. Er atmete noch einmal tief durch, trunken vor Begierde. Nach einer Weile öffnete er die Augen und sah sie ein letztes Mal an. Er spürte das Rauschen seines Blutes, die Hitze, die von tief unten kam, dann ließ er sie langsam los und sah zu, wie sie rücklings von der Brücke fiel. Schaudernd sog er die Luft ein und schloss wieder die Augen, als er unter sich das Aufklatschen hörte.
Vierundzwanzig
Tartaglia stieg aus dem Wagen und sah zu, wie Wightman den Mondeo in eine winzig kleine Parklücke vor dem Geländer oberhalb des Kanals zwängte. Es war später Nachmittag, bald würde es dunkel sein. Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen, aber die Luft war feucht, und der Wind frischte auf. Zum letzten Mal war er vor vielen Jahren hier gewesen, im Sommer, als er noch ganz neu in London war und eine Führung mitgemacht hatte, die entlang des Regent’s Canal von Little Venice bis nach Camden Lock ging.
Er schaute über das Geländer. Das einzige, was sich verändert hatte, war der Horizont, der jetzt von einem glitzernden Gewirr aus Bürogebäuden verstellt war, die um Paddington Basin herum aus dem Boden gestampft worden waren. Direkt unter ihm zog sich ein schmaler öffentlicher Park bis hinunter zum Uferweg und zum Kanal. Weiter hinten lag das weite, dreieckige Becken dunklen Wassers, in dem drei Kanäle zusammenliefen: Browning’s Pool, benannt nach dem Dichter Robert Browning, der einst auf der gegenüberliegenden Seite gelebt hatte. Die Ufer waren gesäumt von Wohnhäusern aus den Siebzigerjahren auf der einen und cremeweißen neoklassizistischen Villen auf der anderen Seite, die heute Millionen wert waren und hinter sorgfältig manikürten Hecken über dem Kanal thronten – ein ungleicher Mix. Die Leute in diesem Teil der Stadt rechneten nicht damit, eine Leiche vor ihrer Haustür zu finden, und er sah mehrere Menschen in den Fenstern ihrer Häuser stehen und das Geschehen unten am Kanal beobachten.
Wightman gesellte sich zu ihm, und gemeinsam gingen sie bis zu der Absperrung, hinter der ein Leichenwagen parkte. Sie hielten einem uniformierten Polizisten von der hiesigen Wache ihre Dienstausweise hin und stiegen die steile, glatte Treppe zum Uferweg hinab.
Unten blieb Tartaglia stehen und betrachtete noch einmal die Umgebung. Außer dem Geräusch des Windes, der durch die Bäume und übers Wasser fegte, war nur das Quaken der Gänse auf der kleinen Insel in der Mitte des Beckens zu hören. Schon im Sommer war das Wasser hier verstörend trüb und grünbraun gewesen, doch von Nahem, noch dazu unter einem dunkler werdenden Himmel, sah es giftig aus, und er bemitleidete
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