Komm zu mir, Schwester!
dieselbe Kette«, sagte ich. »Ihr Freund Luis hat sie ihr vor ihrer ersten Flugreise geschenkt. Türkis ist der Glücksstein der Navajo. Die Adlerfigur soll den Träger vor bösen Himmelsgeistern beschützen.«
»Das war echt nicht gut, dass sie die Kette ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt weiterverschenkt hat«, sagte Jeff. »Diesen Schutz hätte sie brauchen können.«
»Ist ja nur Aberglaube.«
»Helen hat daran geglaubt«, sagte Jeff. »Und aus diesem Grund hat sie dir die Kette wahrscheinlich geschenkt.«
Mittlerweile waren wir am Eingang der Highschool angekommen. Die Tür war kaum aufzukriegen, weil der aufkommende Wind so heftig dagegen drückte. Und wir waren den anderen so weit hinterher, dass wir wenig verwundert waren, schon das letzte Klingeln durch die leeren Flure scheppern zu hören.
Ich hielt Jeff die Tür auf, damit er sich mit seinen Krücken hindurchzwängen konnte. Dann lieà ich sie los und der Wind schlug sie mit einem Knall zu.
»Böse Himmelsgeister«, sagte Jeff. »Genau das ist sie, Laurie. Lia ist ein böser Geist. Du hast keine Wahl. Du musst sie finden, jetzt erst recht, wo du weiÃt, dass es möglich ist.«
»Das ist nicht so leicht, wie zu Helen zu gehen«, sagte ich. »Immerhin kannte ich Helens Aufenthaltsort.«
»Morgen früh ⦠versuchst du es?«
»Ja, ich versuchâs«, sagte ich. »Aber mehr kann ich nicht versprechen.«
Der Tag war hektisch, aber das ist ja immer so am ersten Tag nach den Ferien. Die allgemeine Verwirrung wurde noch dadurch verschärft, dass ein neues Semester anfing. Man musste die neuen Unterrichtsräume finden und sich an neue Lehrer gewöhnen.
Als die Mittagspause kam, stellte ich fest, dass sich die Geschichte von unserem Abenteuer im Laufe des Morgens herumgesprochen hatte. Alle Leute vom Festland fielen über uns her und wollten die Einzelheiten hören. Sogar die Lehrer wussten Bescheid. Mrs Crawfield, meine Algebralehrerin, die so wenig Verständnis für das Absacken meiner Leistungen gehabt hatte, behielt mich nach dem Unterricht da, um mich zu fragen, ob sie mir mehr Zeit für die Abgabe der nächsten Hausaufgaben gewähren sollte, denn »derart traumatische Ereignisse können sich nachteilig auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken«, und Miss Haymann, die Beratungslehrerin der Schülerzeitung, hielt mich auf dem Flur an und fragte, ob Jeff und ich bereit wären, für die Schülerzeitung einen Artikel über unser Erlebnis zu schreiben.
Bei all den Ablenkungen merkte ich gar nicht, was vor den Fenstern des Klassenzimmers passierte, und als ich nachmittags das Gebäude verlieÃ, stellte ich ganz erstaunt fest, dass es angefangen hatte zu schneien. Und das war auch kein leichter, weicher Schneefall. Die Flocken klatschten schwer zur Erde, wo sie liegen blieben und die Grundlage für die Schichten von Neuschnee bildeten, der sich bald darauf anhäufte.
»Hier ist Helens Bilderbuch Winter«, war Jeffs leicht bitterer Kommentar. »Ist doch ScheiÃe, dass sie das nicht zu sehen kriegt.«
Die Ãberfahrt zur Insel war alles andere als ruhig. Der Wind vom Morgen hatte noch zugenommen, die See war unruhig und die Wellen trugen Schaumkronen. Jeffs Vater wartete am Anleger und holte ihn ab, ich machte mich zu Fuà auf nach Cliff House und stemmte mich mit den Händen tief in den Jackentaschen gegen den Wind.
An diesem Tag ging Lia nicht an meiner Seite, sie war auch nicht auf den Felsen oder in den Dünen. Seit neun Tagen hatte ich sie nicht gesehen, doch je weiter ich mich Cliff House näherte, desto stärker spürte ich ihre Anwesenheit. Als ich die Haustür aufmachte, wurde das Gefühl so stark, dass ich beinahe erwartete, sie oben am Kopf der Treppe zu sehen.
Aber das geschah nicht. Wenn sie da war, und ich glaube, dass sie es war, dann zeigte sie sich nicht.
Der Rest des Tages ist mir nicht deutlich im Gedächtnis geblieben. Ich machte meine Hausaufgaben. Ich aà mit meiner Familie zu Abend. Worüber wir gesprochen haben, weià ich nicht mehr. Ich glaube, wir spielten noch irgendein Kartenspiel, aber ich könnte nicht sagen, welches oder wer gewonnen hat. Ich ging zu Bett. Die Wellen schlugen krachend an die Felsen. Daran erinnere ich mich. Als ich das Licht ausmachte, wurde das Donnern noch von der Dunkelheit verstärkt, und der Wind heulte um die Ecken des
Weitere Kostenlose Bücher