Komm zurück, mein dunkler Bruder
den Kindern, verdammt«, blaffte sie. »Sie könnten etwas lernen. Dexter – du steigst jetzt sofort in das Scheißboot!«
Ich drehte mich gehorsam um und eilte zu dem Scheißboot. Deborah lief hinterher und saß bereits, als ich hineinsprang, und der Polizist am Steuer startete in Richtung einer der kleineren Inseln, fädelte sich zwischen den ankernden Segelbooten hindurch.
Vor der Marina von Dinner Key liegen mehrere kleine Inseln, die Schutz vor Wind und Wasser gewähren, einer der Gründe, warum man dort so gut vor Anker gehen kann. Natürlich nur unter normalen Umständen, wie die Inseln selbst bewiesen. Auf ihnen fanden sich jede Menge Bootswracks und anderer maritimer Müll, die von den vielen Wirbelstürmen der letzten Zeit hier deponiert worden waren, und ab und an gründete ein Landbesetzer hier einen Hausstand, indem er sich einen Unterschlupf aus den Wrackteilen zimmerte. Die Insel, zu der wir unterwegs waren, gehörte zu den kleineren. Die Hälfte einer Zehn-Meter-Jacht lag in verrücktem Winkel auf dem Sand, und die Kiefern am Saum des Strandes hingen voller Styropor, Kleidungsfetzen und knisternden Resten von Kunststoffplanen und Mülltüten. Abgesehen davon war sie genauso, wie die Ureinwohner Amerikas sie hinterlassen hatten, ein friedliches kleines Stück Land, bedeckt von Kiefern, Kondomen und Bierdosen.
Abgesehen natürlich von Kurt Wagners Leiche, die höchstwahrscheinlich von jemand anderem als den amerikanischen Ureinwohnern zurückgelassen worden war. Sie lag auf einer kleinen Lichtung in der Mitte der Insel, und wie die anderen war sie in feierlicher Haltung arrangiert worden, die Arme über der Brust verschränkt, die Beine aneinandergelegt. Sie war kopflos und unbekleidet, verkohlt, fast genau wie die anderen – nur dass diesmal eine Kleinigkeit hinzugefügt worden war. Um den Hals hing eine Lederschnur mit einem Zinnmedaillon von der Größe eines Eis. Ich beugte mich darüber, um es näher zu betrachten: Es war ein Stierschädel.
Wieder spürte ich diesen seltsamen Stich in der Leere, als ob ein Teil von mir erkannte, wie wichtig das war, doch nicht wusste, warum oder wie er es ausdrücken sollte – nicht allein, nicht ohne den Passagier.
Vince Masuoka kauerte neben der Leiche, wo er einen Zigarettenstummel untersuchte, und Deborah kniete sich neben ihn. Ich umkreiste sie und betrachtete sie dabei aus sämtlichen Blickwinkeln: Stillleben mit Polizisten. Ich nehme an, dass ich hoffte, einen kleinen, doch signifikanten Hinweis zu entdecken. Vielleicht den Führerschein des Mörders oder sein unterschriebenes Geständnis. Doch nichts dergleichen, nichts außer Sand, vernarbt von zahllosen Füßen und dem Wind.
Ich ließ mich neben Deborah auf ein Knie herunter. »Ihr habt nach der Tätowierung gesucht, stimmt’s?«, fragte ich sie.
»Als Erstes«, sagte Vince. Er streckte eine im Plastikhandschuh steckende Hand aus und hob die Leiche leicht an. Dort war sie, halb von Sand verdeckt, doch noch zu erkennen, nur der obere Rand war abgetrennt und fehlte, vermutlich zusammen mit dem verschwundenen Kopf.
»Er ist es«, stellte Deborah fest. »Die Tätowierung, sein Wagen vor der Marina – er ist es, Dexter. Und ich wünschte, ich wüsste, was in Dreiteufelsnamen die Tätowierung zu bedeuten hat.«
»Es ist Aramäisch«, erklärte ich.
»Scheiße, woher willst du das denn wissen?«, fragte Deborah.
»Recherche.« Ich kauerte mich neben die Leiche. »Schau!« Ich hob einen kleinen Kiefernzweig auf und benutzte ihn als Zeigestab. Ein Teil des ersten Buchstabens fehlte, war zusammen mit dem Kopf abgetrennt worden, doch der Rest war gut zu erkennen und passte zu meiner Sprachlektion.
»Dort ist das
M
, zumindest der Rest davon. Und das
L
und das
K
.«
»Und was soll das heißen?«, blaffte Deborah.
»Moloch«, antwortete ich, während mir ein kleiner irrationaler Schauer über den Rücken lief, nur weil ich es im strahlenden Sonnenschein aussprach. Ich versuchte das Gefühl abzuschütteln, doch ein gewisses Unbehagen blieb. »Aramäisch kennt keine Vokale.
MLK
wird Moloch gesprochen.«
»Oder Milch«, warf Deborah ein.
»Ehrlich, Debs, falls du glaubst, der Mörder würde Milch auf seinen Hals tätowieren, brauchst du dringend ein Nickerchen.«
»Doch wenn Wagner Moloch ist, wer hat ihn dann umgebracht?«
»Wagner hat die anderen getötet«, antwortete ich, heftig bemüht, gleichzeitig nachdenklich und selbstbewusst zu klingen, eine schwierige Aufgabe. »Und dann,
Weitere Kostenlose Bücher