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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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mit dem ständigen Gefühl durchs Leben, wandelndes Schlachtvieh zu sein, das die Strecke entlangtaumelt, während die Tiger ihm auf den Fersen sind? Falls ja, würde das viel zur Erklärung menschlichen Verhaltens beitragen. Da ich selbst ein Raubtier war, kannte ich das Gefühl der Macht, sich getarnt inmitten der Herden potenzieller Beutetiere zu bewegen, gewiss, dass ich jederzeit eins von ihnen von der Herde trennen konnte. Aber ohne ein Wort vom Passagier mischte ich mich nicht nur unter sie; ich wurde tatsächlich zu einem Teil der Herde, verwundbar. Ich war Beute, und das gefiel mir nicht. Es machte mich wesentlich wachsamer.
    Und als ich von der Schnellstraße abfuhr, offenbarte meine Wachsamkeit einen weißen Toyota Avalon, der mir folgte.
    Selbstverständlich gibt es auf der Welt zahlreiche weiße Toyota Avalon. Immerhin haben die Japaner den Krieg verloren, und das gibt ihnen das Recht, unseren Automarkt zu beherrschen. Und sicherlich nutzten viele dieser weißen Avalon auf dem Heimweg dieselben überfüllten Straßen wie ich. Logisch betrachtet, gab es nur eine bestimmte Anzahl Richtungen, in die man fahren konnte, und es war vollkommen normal für einen weißen Avalon, eine davon einzuschlagen. Und die Annahme, dass mir jemand folgte, war unlogisch. Was hatte ich schon getan? Ich meine, was man beweisen konnte?
    Und eben deshalb war mein Gefühl, verfolgt zu werden, vollkommen unlogisch, was nicht erklärte, warum ich unvermittelt auf die U. S. 1 abbog und eine Nebenstraße hinunterfuhr.
    Ebenso wie es nicht erklärte, warum der weiße Avalon mir folgte.
    Der Wagen blieb weit hinter mir, wie jedes gute Raubtier es tun würde, um seine Beute nicht zu erschrecken – und wie jeder normale Mensch, der zufällig dieselbe Abzweigung nehmen musste. Und so bog ich mit demselben uncharakteristischen Mangel an Logik erneut ab, diesmal nach links, in eine schmale Wohnstraße.
    Einen Moment später folgte der andere Wagen.
    Wie bereits erwähnt ist die Bedeutung des Wortes Angst Dexter dem Schneidigen unbekannt. Demnach konnten das dröhnende Hämmern meines Herzschlags, das Pergamentgefühl in meinem Mund und meine schweißnassen Hände nicht mehr als Anzeichen eines massiven Unbehagens sein.
    Ich genoss das Gefühl keineswegs. Ich war nicht länger der Ritter des Messers. Klinge und Rüstung lagen in irgendeinem Kellergewölbe der Burg, und ich stand ohne sie auf dem Schlachtfeld, plötzlich ein weiches und schmackhaftes Opfer. Ohne einen Grund nennen zu können, war ich sicher, dass etwas meinen Geruch in seinen räuberischen Nüstern hatte.
    Ich bog wieder rechts ab – und bemerkte das Schild »Keine Durchfahrt« erst, als ich daran vorbeifuhr.
    Ich war in einer Sackgasse gelandet. Ich saß in der Falle.
    Aus irgendeinem Grund ging ich mit der Geschwindigkeit herunter und wartete darauf, dass der andere Wagen mir folgte. Ich vermute, ich wollte mich einfach vergewissern, dass der weiße Avalon wirklich dort war. Er war es. Ich rollte zum Ende der Straße, wo sie sich zu einem Wendehammer öffnete. In der Einfahrt des Hauses an der Stirnseite des Wendehammers parkten keine Autos. Ich steuerte hinein und stellte den Motor ab, wartete, verblüfft vom Hämmern meines Herzens und meiner Unfähigkeit, mehr zu tun, als einfach dazusitzen und auf die unausweichlichen Zähne und Klauen dessen zu warten, was immer mich verfolgte.
    Der weiße Wagen kam näher. Als er den Wendehammer erreichte, wurde er langsamer, langsamer, näherte sich …
    Und fuhr an mir vorbei, rund um den Wendehammer, die Straße wieder hinauf und in den Sonnenuntergang von Miami.
    Ich sah hinterher, und als die Rücklichter um die Ecke verschwanden, erinnerte ich mich plötzlich, wie man atmet. Ich nutzte dieses wiederentdeckte Wissen, und es war ein gutes Gefühl. Sobald ich meinen Sauerstoffvorrat aufgefüllt und mich wieder in mein eigentliches Selbst verwandelt hatte, begann ich mich wie ein äußerst blödes Selbst zu fühlen. Was war denn schon passiert? Ein Auto schien mich zu verfolgen. Dann war es fort. Es gab eine Million Gründe, warum es dieselbe Strecke wie ich gefahren sein mochte, die man fast alle mit einem Wort zusammenfassen konnte: Zufall. Und was hatte das große, böse Auto getan, während der arme zagende Dexter in seinem Sitz schwitzte? Es war vorbeigefahren. Es hatte nicht angehalten, um zu starren, zu knurren oder eine Handgranate zu werfen. Es war einfach vorbeigefahren und hatte mich in einer Lache meiner absurden

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