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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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schwanden all die alten Barrieren zwischen mir und dem normalen Leben, und ich spürte etwas, das der echten Sache sehr nahekam. »Deborah«, schnarrte ich, »wenn du mir nicht vertraust und denken möchtest, dass ich es getan habe, gebe ich einen Rattenschiss darauf, was von beidem du glaubst.«
    Sie funkelte mich wütend an, und zum allerersten Mal funkelte ich wütend zurück.
    Schließlich machte sie den Mund auf. »Ich muss es trotzdem zu den Akten nehmen. Offiziell darfst du von jetzt an nicht mal hier in die Nähe kommen.«
    »Nichts könnte mich glücklicher machen«, sagte ich. Sie starrte mich noch einen Moment an, dann kniff sie die Lippen zusammen und kehrte zu Camilla Figg zurück. Einen Augenblick lang sah ich ihr nach, dann wandte ich mich zum Ausgang.
    Es gab wahrhaftig keinen Grund, noch länger zu bleiben, zumal man mir sowohl offiziell wie inoffiziell mitgeteilt hatte, dass ich nicht willkommen war. Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, dass ich in meinen Gefühlen verletzt war, doch überraschenderweise war ich zu wütend, um gekränkt zu sein. Und in Wahrheit hatte es mich stets erschüttert, dass jemand mich wirklich mögen konnte, darum war es fast eine Erleichterung, dass Deborah wenigstens dieses eine Mal eine vernünftige Haltung einnahm.
    Für Dexter war alles gut, doch aus irgendeinem Grund fühlte es sich nicht gerade wie ein großer Sieg an, als ich mich zur Tür wandte und in die Verbannung begab.
    Ich wartete draußen auf das Eintreffen des Fahrstuhls, als mich unvorbereitet ein heiserer Schrei traf. »Hey!«
    Ich drehte mich um und sah einen sehr alten, sehr zornigen Mann auf mich zustürmen, der Sandalen und schwarze Strümpfe trug, die bis zu seinen knorrigen alten Knien reichten. Außerdem trug er weite Shorts und ein Seidenhemd und den Ausdruck rechtschaffenen Zorns im Gesicht. »Sind Sie die Polizei?«, blaffte er.
    »Nicht die ganze«, erwiderte ich.
    »Was ist mit meiner verdammten Zeitung?«, fragte er.
    Fahrstühle sind so langsam, nicht? Aber ich versuche höflich zu sein, wenn es sich nicht vermeiden lässt, deshalb lächelte ich den alten Irren beruhigend an. »Gefällt Ihnen Ihre Zeitung nicht?«, erkundigte ich mich.
    »Ich habe meine verdammte Zeitung nicht
gekriegt
«, brüllte er mich an, wobei die Anstrengung ihn zartlila anlaufen ließ. »Ich habe angerufen und euch Leuten Bescheid gesagt, und das farbige Mädchen am Telefon sagt mir, ich soll die Zeitung anrufen! Ich habe gesehen, wie der Junge sie geklaut hat, und die legt einfach auf!«
    »Ein Junge hat Ihre Zeitung geklaut«, wiederholte ich.
    »Was, zum Teufel, habe ich gerade gesagt?«, donnerte er mich an, und jetzt wurde er ein bisschen schrill, was nicht dazu beitrug, das Warten auf den Fahrstuhl angenehmer zu machen. »Warum, zum Teufel, zahle ich Steuern, um mir das anzuhören? Und sie
lacht
mich aus, verdammt!«
    »Sie können sich eine andere Zeitung holen«, sagte ich beruhigend.
    Es schien nicht zu wirken. »Was, zum Teufel, soll das, eine andere Zeitung holen? Samstagmorgen, im Schlafanzug, und da soll ich mir eine andere Zeitung holen? Wieso könnt ihr nicht einfach die Verbrecher fangen?«
    Der Fahrstuhl gab ein gedämpftes
Ping
von sich, um sein Eintreffen anzukündigen, doch ich war nicht länger interessiert, denn mir war ein Gedanke gekommen. Hin und wieder kommen mir Gedanken. Die meisten schaffen es nie bis zur Oberfläche, vermutlich, weil ich schon mein Leben lang versuche, einem Menschen zu ähneln. Doch dieser stieg langsam hoch, brach wie eine Gasblase durch den Schlamm und leuchtete unvermittelt in meinem Verstand auf.
    »Samstagmorgen?«, wiederholte ich. »Wissen Sie noch, wie spät es war?«
    »Selbstverständlich weiß ich noch, wie spät es war! Das habe ich bei meinem Anruf angegeben, zehn Uhr dreißig, an einem Samstagmorgen, und dieser Junge klaut meine Zeitung.«
    »Woher wissen Sie, dass es ein Junge war?«
    »Weil ich durch den Spion geschaut habe, deshalb«, brüllte er mich an. »Soll ich ohne zu gucken rausgehen und euren Job machen? Vergessen Sie’s.«
    »Wenn Sie ›Junge‹ sagen«, fragte ich, »welches Alter meinen Sie damit?«
    »Hören Sie, Mister. Für mich ist jeder unter siebzig ein Junge. Doch dieser Junge war vielleicht zwanzig und trug einen Rucksack, wie sie es alle heutzutage machen.«
    »Können Sie den Jungen beschreiben?«, fragte ich.
    »Ich bin nicht blind«, schimpfte er. »Er hat sich mit meiner Zeitung aufgerichtet, und er hat eine von diesen

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