Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
ein Gefühl, das sie von allem Anfang an betrogen hatte. Ein wenig schüchtern tauchte sie in der rauchverschleierten Gaststube auf. Verwirrt blickte sie sich um. Die vielen Männer irritierten sie. Scheu blickte sie in die gelben, braunen und schwarzen Gesichter der Gäste. Heute waren nur wenig weiße Frauen da. Sie fühlte sich verloren und einsam in diesem brodelnden Hexenkessel. Schließlich kam sie zu dem gleichen Gedanken wie Kate Hugard: Wie kann er nur hierher gehen. Was muß er für ein Mann sein, wenn er sich zwischen diesen Subjekten wohlfühlt. Bei mir hätte er es entschieden schöner angetroffen.
Jetzt endlich entdeckte sie ihn. Er saß ganz allein an einem Tisch. Er blickte ihr entgegen. Aber er sah sie nicht. Seine Augen schweiften abwesend über sie hinweg.
„James“, sagte Stephanie Malet leise und trat hastig an seine Seite. „Warum hast du vorhin am Telefon abgesagt? Was sind das für Geschäfte, die du . . .?“
James Hatfield bewegte sich kaum. Er war seltsam verändert. Er starrte sie an, als hätte er sie nie vorher gesehen. Seine Pupillen waren auffallend verengt und nicht größer als Stecknadelköpfe.
„Was hast du, James?“ fragte Stephanie Malet unruhig. „Sprich doch ein Wort! Willst du nicht mitkommen?“
James Hatfield deutete auf den nächsten Stuhl. „Setz dich!“ sagte er mit dunkler Stimme. „Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn du auf den weiten Weg hierher verzichtet hättest. Ich lasse mich in solchen Stunden nicht gerne stören. Es ist ohnehin sehr selten, daß ich mich glücklich fühle. Eben war ich es noch. Aber jetzt. . .
Stephanie Malet griff kopfschüttelnd nach seiner Hand.
„Bist du betrunken, James?“ fragte sie besorgt. „Was redest du denn für wirres Zeug? Fühlst du dich nicht wohl? Kann ich etwas für dich tun?“
James Hatfield gab ihr keine Antwort. Er behandelte sie mit verletzender Gleichgültigkeit. Er würdigte sie nicht einmal eines Blickes.
„Komm doch, James“, mahnte Stephanie Malet eindringlich. „Sie starren bereits alle zu uns her. Ich habe Angst vor ihnen. Sie sind wie lauernde Tiere..
James Hatfield nickte schwerfällig. Er bezahlte seine Zeche. Er erhob sich und wartete, bis ihm ein gelber Kellner in den Mantel half. Dann trat er langsam neben Stephanie Malet und ging mit ihr hinaus auf den Sodom Wall. Es war dunkel in der engen Ufergasse. Der Nebel hatte sich zu einem filzigen Tuch verdichtet. Leise klang das Gurgeln der Themse durch den zähen Dunst. Zwanzig Schritte etwa ging Stephanie Malet neben ihrem schweigsamen Begleiter dahin, dann blieb sie plötzlich stehen. Sie zog ihn an sich. Sie schlang beide Arme um seinen Hals.
„Warum quälst du mich so, James?“ fragte sie gepreßt. „Was soll dein seltsames Benehmen bedeuten? Liebst du mich nicht mehr? Soll ich gehen?“
Ein beseligendes Gefühl strömte durch ihre Adern, als er sie hart an sich preßte und ihr Gesicht mit heißen Küssen bedeckte. Sie spürte das Eisengeländer in ihrem Rücken. Die Querstange schnitt schmerzhaft in ihren Körper. Aber sie achtete nicht darauf. Sie hatte keinen Gedanken für solche Nebensächlichkeiten. Sie hielt die Augen geschlossen und gab sich ganz dem Zauber dieser Stunde hin. Sie hörte James Hatfield plötzlich keuchen, als würde er mühsam nach Luft ringen. Seine Hände verkrampften sich in ihren Haaren. Er tat ihr weh. Doch Stephanie Malet wollte das nicht wahrhaben. Erst als sich seine Hände um ihre Kehle legten, öffnete sie die Augen. In der gleichen Sekunde schrak sie verstört zusammen. Es war kein menschliches Gesicht mehr, in das sie blickte. Es war eine vertierte Fratze. Die verzerrte Visage eines Ungeheuers. Zwei stechende Augen blickten bohrend durch sie hindurch.
„James!“ flüsterte Stephanie Malet ängstlich. „Was ist los mit dir? Wie siehst du denn aus? So kenne ich dich gar nicht. Hast du wirklich zuviel getrunken?“
Sie brach ab. Ihre Stimme gab auf einmal keinen Ton mehr. Jeder Atemzug bereitete ihr unerträgliche Qualen. Ihr Hals schmerzte von den würgenden Griffen.
Sie bäumte sich verzweifelt auf. Sie versuchte sich aus der tödlichen Umklammerung zu lösen. Aber ihre Kraft ließ rasch nach. Obwohl sie die Augen noch immer weit geöffnet hielt, konnte sie kaüm noch etwas erkennen. Die schwarzen Häuserfronten schienen auf sie niederzustürzen. Die Gasse tanzte auf und ab. Das Gurgeln des Stromes schwoll an zu einem mächtigen Brausen. Wie seltsam, daß Stephanie Malet gerade in diesen
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