Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
die vier andern her, Sir! Es war bei allen das gleiche Lied. Keine hatte Lust auf Abenteuer und nächtliche Ausflüge. Sie fuhren von der Austern Bar direkt in ihre Unterkünfte.“
„Wen haben Sie beschattet?“
„Stephanie Malet, Sir.“
„Zufällig? Oder aus einem besonderen Grund?“ Wieder fuhr Chris Longman mit beiden Händen über das stoppelige Kinn.
„Es hatte eine gewisse Ursache, Sir“, murmelte er dann. „Stephanie Malet schien mir am meisten gefährdet. Sie ist erst vor ein paar Tagen aus der Artistenpension ausgezogen. Sie hatte einen neuen Freund. Sie mietete sich ein kleines Zimmer in einem Boardinghouse.“
„Na und? Ging sie nach Hause? Oder trieb sie sich noch irgendwo herum?“
„Sie tat das Vernünftigste, was sie tun konnte. Sir! Sie kehrte nach Ende der Vorstellung sofort in das Boardinghouse zurück. Sie war allein. Niemand begleitete sie. Als ich das Licht in ihrem Zimmer aufflammen sah, war mein Dienst zu Ende.“
„Na also“, sagte Kommissar Morry verständnislos. „Was wollen Sie dann? Wieso redeten Sie vorhin am Telefon von einem neuen Mord?“
„Es gibt noch mehr Mädchen in London, Sir“, sagte Chris Longman mit schiefen Blicken. „Warum sollte sich der Mörder ausgerechnet auf die elf Girls von der Austern Bar beschränken. Er kann doch auch andere haben. Sie laufen ihm alle nach. Sie sind wie verrückt hinter ihm her.“
„Kommen Sie zur Sache! Was war mit dem Mord?“
Chris Longman räusperte sich eine Weile und stierte dann hungrig auf die belegten Brötchen. An dem Bier schielte er schräg vorbei. Immer wieder fuhr er mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen.
„Wie wäre es mit einem kleinen Vorschuß?“ keuchte er gierig. „Ich kann vor Hunger und Durst kaum noch reden.“
„Über das Geld reden wir später“, sagte Morry widerwillig. „Ich will erst eine Leistung sehen. Aber ein Glas Bier und etwas zu essen können Sie haben. Hier sind drei Schilling. Mehr habe ich auch nicht ausgegeben.“
Chris Longman raffte hastig die Münzen an sich und warf sie in die Schlitze der Automaten. Mit einem Bier und einem großen Tartarbrot kehrte er an den Tisch zurück. Er kaute mit beiden Backen. Er brachte kein Wort hervor, bis er sein Glas geleert hatte.
„Das war so, Sir“, erzählte er dann. „Gestern Abend kurz vor Mitternacht saß ich beim Suppenwirt am Sodom Wall. Die Boys waren auch da. Wir spielten Karten.“
„Werde ich heute noch etwas über den Mord hören?“ fragte Morry verzweifelt.
„Gleich, Sir. Ich bin gerade dabei. Es war also kurz vor Mitternacht. Ich wollte mal für eine Minute frische Luft schnappen. Ich ging nach oben. Ich streifte den Sodom Wall entlang. Es war neblig. Ich konnte nicht weit sehen. Aber soviel sah ich doch, daß hinter der Austern Bar ein Liebespärchen stand. Es war genau die Stelle, an der Kate Hugard...“
„Weiter, zum Donnerwetter!“
„Es war nichts los, Sir. Ich kehrte wieder um. Auf halbem Wege hörte ich plötzlich ein klatschendes Geräusch im Wasser. Es klang geradeso, als sei ein menschlicher Körper in die Fluten gestürzt. Ich rannte zurück, Sir! Ich sah den Schatten eines Mannes, der sich gehetzt durch den Nebel entfernte. Von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen. Im Wasser unterhalb des Geländers wirbelte noch ein Strudel, als sei dort eben jemand untergegangen.“
„Warum haben Sie nicht sofort die Polizei benachrichtigt?“ fragte Morry unwirsch.
Chris Longman zuckte mit den Achseln. „Ich war meiner Sache nicht sicher, Sir! Ich wollte auch kein Aufsehen. Sie wissen doch, daß unsereiner immer im Dunkeln bleiben muß.“
„Haben Sie die Stelle am Fluß später noch einmal kontrolliert?“
„Natürlich, Sir! Ich lungerte fast den ganzen Vormittag am Sodom Wall herum. Ich hoffte ein Kleidungsstück, eine Handtasche oder sonst etwas zu finden. Aber leider konnte ich überhaupt nichts entdecken. Auf dem Wasser schwimmt klebriges Öl. Sonst nichts.“
Morry trommelte nervös mit den Fingern auf der Marmorplatte. „Was erwarten Sie nun von mir?“ brummte er unschlüssig. „Soll ich vielleicht den Fluß absuchen lassen?“
Chris Longman schüttelte den Kopf. „Ich würde noch bis zum Abend warten, Sir“, murmelte er. „Vielleicht ist bis dahin eine Vermißtenmeldung eingegangen. Wenn nicht, dann gehen Sie doch in die Austern Bar. Bis elf können Sie ja schließlich zählen.“
„Werden Sie nicht frech“, fauchte Morry gereizt. „Halten Sie lieber den Daumen, daß heute
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