Kommissar Morry - Ich habe Angst
Die Nacht sank. Es war längst dunkel draußen vor den Fenstern. Aber Lydia machte trotzdem kein Licht. Der Feuerschein war ihr hell genug. Sie saß da und stierte teilnahmslos vor sich hin. Bis in der zehnten Abendstunde endlich die Flurglocke anschlug. Hell und scharf tönte der schrille Klang durch die Halle. Lydia sprang auf und lief zur Tür. Sie warf die Sperrkette zurück und riß die Klinke nieder. Die Tür sprang auf. Kalte Nachtluft wehte in die Halle. Draußen standen zwei Herren, der eine in Uniform, der andere in Zivil.
„Sergeant Master", stellte sich der eine vor, „Hilfsinspektor Miller", der andere. Beide hatten ernste Gesichter. Sie traten in die Halle ein. Sie baten Lydia Scott, Licht zu machen. Sie gingen mit ihr zum Kamin und setzten sich in die bequemen Sessel. Sie sahen den vollen Aschenbecher und auch die geleerten Weinflaschen.
„Wir haben ihn gefunden", murmelte Hilfsinspektor Miller unvermittelt.
„Wen?" fragte Lydia töricht.
„Ihren Gatten, Madam."
„Wo?"
„In der Nähe seiner Jagdhütte."
„Ist er ... ist er . . ."
Hilfsinspektor Miller nickte bedrückt.
„Ja, er ist tot, Madam! Ich muß Ihnen die Wahrheit sagen. Er hat aber nicht leiden müssen, das ist ziemlich sicher. Die Kugel drang in die rechte Stirnseite ein. Sie führte den sofortigen Tod herbei."
„Wer hat es getan?" fragte Lydia mit schriller Stimme.
„Er selbst", sagte der Hilfsinspektor achselzuckend.
„Er selbst? Wie soll ich das verstehen?"
„Es war ein Unglücksfall, Madam! Der Arzt dachte zunächst an Selbstmord, aber das scheidet ja nach Lage der Dinge aus. Ein neugebackener Ehemann wählt nicht ausgerechnet nach seiner Hochzeitsnacht den Freitod, wenn daheim eine hübsche junge Frau auf ihn wartet. Folglich kann es nur ein Unglücksfall gewesen sein. Er stolperte über eine Baumwurzel. Er stürzte. Dabei löste sich versehentlich der Schuß ..."
„War es nicht vielleicht doch ein Verbrechen?" bohrte Lydia hartnäckig weiter.
Hilfsinspektor Miller schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, Madam! Die Mordkommission fand keinerlei Anhaltspunkte für eine Bluttat. Am Gewehr fanden sich nur die Fingerabdrücke des Toten. Und es war nachweislich eine Kugel aus seiner eigenen Bocksflinte, die ihm den Tod brachte. Mr. Scott war ein erfahrener Jäger. Er hätte sich die Waffe doch nie entreißen lassen. Nein, es ist schon so, wie ich sagte, Madam! Es war ein bedauerlicher Unglücksfall. Ich möchte Sie meiner aufrichtigen Teilnahme versichern."
Im stillen aber war er verwundert, wie gefaßt diese Frau die niederschmetternde Hiobsbotschaft aufnahm. Sie vergoß keine Träne. Sie war nicht einmal sonderlich bewegt. Eher gleichgültig und apathisch.
„Was wird nun geschehen?" fragte sie nach einer Weile.
Wieder zuckte der Hilfsinspektor mit den Achseln.
„Die Polizei wird die Leiche schon morgen freigeben, Madam! Sicher hat Mr. Scott irgendein Testament aufgesetzt. Sie werden daraus ja erfahren, welche letzten Wünsche er äußerte. Sicher will er auf dem hiesigen Friedhof in der Familiengruft beigesetzt werden."
Mehr gab es vorerst nicht zu sagen. Die beiden Beamten hatten ihre unangenehme Pflicht erfüllt und waren nun sichtlich bestrebt, dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Ein paar Minuten später war Lydia wieder allein. Sie ging nicht schlafen in dieser Nacht. Sie blieb am Kamin sitzen und wartete mit übernächtig brennenden Augen auf den nächsten Morgen.
11
Nachdem die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren, löste Lydia Scott ihren Haushalt in Mala Green auf und ließ die graue Villa durch einen Makler zum Verkauf anbieten. Sie selbst aber übersiedelte nach London. Sie nahm vorerst ein Zimmer in einer kleinen Pension, um von hier aus die Suche nach einer eigenen Wohnung in aller Ruhe betreiben zu können. Am dritten Tag nach ihrer Übersiedlung tauchte plötzlich Alban Lampard in ihrem Zimmer auf. Er trat ein, ohne vorher anzuklopfen. Er schielte sie lauernd an und freute sich diabolisch über ihre Angst. Er hockte sich wie ein häßlicher Klotz auf das kleine Sofa. Minutenlang sprach er kein Wort. Er starrte sie nur an.
„Wo bewahren Sie Ihre Post auf?" fragte er endlich.
Lydia Scott deutete auf eine kleine Schatulle. Alban Lampard ging hin und nahm das zierliche Ding habgierig in seine Hände. Er öffnete den Deckel. Er nahm alle Briefe heraus. Hastig blätterte er sie durch. Schon nach kurzer Zeit fand er, was er suchte; ein amtliches Schreiben der
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