Kommissar Morry - Ich habe Angst
erhalten."
„Welch ein Gespräch am Hochzeitstag", sagte Lydia Brandon mit Bitternis und Müdigkeit. „Weißt du nichts anderes zu erzählen?"
„Doch", sagte Norbert Scott mit jungenhaftem Eifer. „Ich habe eine Ueberraschung für dich. Komm mit!"
Er führte sie in den ersten Stock hinauf und geleitete sie zum letzten Zimmer des langen Ganges. Er drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür.
„Das wird unser gemeinsames Schlafzimmer sein", sagte er. „Ich habe neue Möbel, Gardinen und Teppiche kommen lassen.
Du hast nichts davon gemerkt. Ich besorgte das alles, während du weg warst. Freust du dich? Gefällt es dir?"
„Sehr nett", sagte Lydia Brandon mit dünner Stimme. Ihre Worte klangen matt und kraftlos. Sie konnte sich nicht freuen. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß sie heute nacht neben diesem Mann liegen würde. Er war ihr nicht vertraut. Er schien ihr in dieser Stunde fremder als je zuvor. Teilnahmslos und apathisch duldete sie es, als er sie in seine Arme riß und ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Sein Atem roch nach Alkohol.
Wollen wir nicht wieder nach unten gehen?" fragte Lydia Brandon scheu.
Norbert Scott blickte auf seine Uhr.
„Nun gut", meinte er. „Aber nicht mehr lange. Ich habe immer nur auf diese Stunde gewartet. Jetzt gehörst du mir. Ich werde dich sehr glücklich machen."
Lydia Brandon sagte nichts. Sie ging vor ihm in die Halle hinunter. Sie setzte sich wieder an den Kamin. Ihre Blicke irrten scheu zur Seite. Ich kann das nicht, dachte sie. Es geht über meine Kraft. Ich spüre keinen Funken Liebe für ihn. Noch nicht einmal Mitleid. Er ist mir fremd und gleichgültig.
Als sich Norbert Scott für ein paar Minuten entfernte, um alle Türen abzuschließen, mischte Lydia Brandon ein paar Schlaftabletten in seinen Wein. Sie rührte die weißen Pillen um, bis sie sich völlig aufgelöst hatten. Es wird keine Sünde sein, dachte sie. Ich weiß mir nicht anders zu helfen. Und er ... er wird sicher nichts davon merken. Morgen früh hat er die Enttäuschung schon wieder überwunden. Als Norbert Scott zurückkehrte, saß sie regungslos in ihrem Sessel und starrte in die rötliche Glut des Feuers. Sie sah, daß er in gierigen Zügen trank. Er merkte nicht, daß der Wein etwas bitter schmeckte. Er schöpfte keinen Verdacht.
„Gehen wir jetzt nach oben?" fragte er ungeduldig.
„Ein paar Minuten noch", bat Lydia Brandon mit gesenktem Blick. „Ich finde es so gemütlich hier. Wenn du willst, kannst du einstweilen vorausgehen."
„Aber du kommst doch?" fragte Norbert Scott drängend.
„Ja, ich komme."
Er blieb noch eine Viertelstunde bei ihr sitzen. Dann begannen die Tabletten zu wirken. Er wurde müde. Er konnte kaum noch die Augen offen halten. Ständig gähnte er hinter der vorgehaltenen Hand.
„Ich weiß nicht, was das ist", sagte er schläfrig. „Anscheinend habe ich zuviel getrunken. Ich gehe jetzt. Ich warte, hörst du?"
Er ging mit schwankenden Schritten zur Treppe. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Unsicher tappte er nach oben. Zehn Minuten später verließ auch Lydia Brandon ihren Platz am Kamin. Sie zog sich in das Zimmer zurück, das in der Mansarde lag und ihr bisher allein gehört hatte. Sie versperrte die Tür und schob den Riegel vor. Sie legte sich angekleidet auf das Sofa. Das Licht ließ sie brennen. Als Norbert erwachte, war es noch dunkel vor den Fenstern. Benommen richtete er sich auf und schaltete die Lampe ein. Es war halb fünf Uhr morgens. Er wandte den Kopf zur Seite und sah, daß das Bett neben ihm leer war. Enttäuschung und Ärger stiegen in ihm auf. Er hatte das Gefühl, daß man ihn irgendwie betrogen hatte. Dazu kam noch ein Gefühl der Übelkeit, gegen das er anzukämpfen hatte. Sein Mund war trocken und pelzig. Im Kopf war ein Schwindelgefühl, das er sich nicht erklären konnte. Vor seinen Augen lagen graue Schleier.
Ich brauche frische Luft, dachte er. Ein Pirschgang in das Jagdrevier ist jetzt das einzig richtige. Wenn ich zurückkomme, ist Lydia sicher schon auf. Sie wird mir erklären müssen, was ihr seltsames Verhalten zu bedeuten hat. Er ging nach unten, bereitete sich einen kleinen Imbiß und nahm die Bocksflinte aus dem Waffenschrank. Er lud sie durch, sicherte sie und hängte sie über die Schulter. Er nahm das Fernglas mit und den Rucksack. Dann verließ er das Haus. Er wußte nicht, daß der Tod hinter ihm ging. Er hatte keine Ahnung davon, daß er nie wieder in sein Haus
Weitere Kostenlose Bücher