Kommissar Morry - Terror um Mitternacht
Zimmertür. Sie klopfte leise. Als keine Aufforderung zum Eintreten ertönte, klopfte sie ein zweites Mal etwas stärker.
„Ja?“
Die Stimme drückte die Überraschung eines Menschen aus, der durch das Klopfen aus dem Halbschlummer gerissen wird. Tatsächlich fand Grace den jungen Mann auf der Couch liegend vor. Er sprang sofort auf und schlüpfte in sein Jackett, als sie eintrat.
„Entschuldigen Sie bitte", sagte er förmlich und knöpfte das Jackett zu, „ich muß eingeschlafen sein. Das monotone Rauschen des Meeres hat mich dazu veranlaßt.“
Grace blickte sich in dem Zimmer um. Es glich bis auf wenige Bilder genau dem Raum, den sie bewohnte.
„Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte Spencer höflich.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das schöne Mädchen von ihm wollte. Mit leiser Verwunderung stellte er fest, daß sie in ihrem Äußeren eine höchst befremdliche Verwandlung durchgemacht hatte. Als er sie im Speisesaal sah, war sie ihm wie die Verkörperung des Damenhaften erschienen; jetzt wirkte sie nur noch weiblich und erregend wie ein Lockvogel.
„Ich... ich bedaure unendlich, Sie beim Schlafen gestört zu haben“, erwiderte Grace mit gespieltem Erschrecken. „Das war wirklich nicht meine Absicht. Es ... ich meine, ich wollte nur fragen, ob Sie mir wohl mit ein paar Streichhölzern aushelfen können. Mein Feuerzeug funktioniert nämlich nicht mehr.“
Er glaubte ihr kein Wort. Aber warum war sie gekommen? Das Licht der Wandlampe fing sich in ihrem lockeren, rötlichen Haar. Es schien kleine, metallische Funken darin zu entzünden, Fünkchen, die auch in ihren schönen Augen tanzten. Er spürte plötzlich den Duft ihres Parfüms. Er starrte sie an.
Er hatte schon im Speisesaal bemerkt, daß sie ungewöhnlich schön war. Jetzt überfiel ihn die Konzentration so vieler weiblicher Reize in einem Körper wie ein Schlag.
Es ist viel einfacher, als ich dachte, ging es durch Graces Kopf. Er hat schon Feuer gefangen. Meine Güte, wie kindisch leicht ist es doch, einen Mann zu becircen. Ein enges Kleid und ein verschleierter Blick...
„Sie haben keine Streichhölzer?“ fragte sie.
„Oh, pardon, doch, natürlich!" erwiderte er und klopfte die Taschen seines Anzugs ab. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“
Grace täuschte ein kleines Zögern vor, dann setzte sie sich. Sie seufzte und öffnete die kleine Abendhandtasche, um ihr goldenes Zigarettenetui herauszunehmen.
„Ich hätte nicht in diese Pension ziehen dürfen“, sagte sie und hielt ihm das Etui unter die Nase. „Rauchen Sie?“
„Vielen Dank, jetzt nicht.“
Sie blickte zu ihm in die Höhe. „Warum setzen Sie sich nicht?"
Er nahm Platz. Er saß ziemlich steif. Ihm kam zum Bewußtsein, daß er, der es gewohnt war, unbefangen mit schönen Mädchen und Frauen zu plaudern, plötzlich von einer seltsamen Scheu gefangengehalten wurde. Grace schob eine Zigarette zwischen ihre roten Lippen. Er reichte ihr Feuer.
„Vielen Dank“, sagte sie. Sie betrachtete sich kurz das glimmende Ende der Zigarette, nahm einen Zug, stieß den Rauch aus, und fuhr dann fort: „Ja, ich bedaure nach hier gezogen zu sein. Das Rauschen des Meeres, dieses monotone Murmeln und Brausen der Urkräfte stimmt mich melancholisch.“
Er hörte kaum auf das, was sie sagte, aber er glaubte begriffen zu haben, wie sie in sein Zimmer getrieben hatte. Hier, auf der felsigen Klippe über dem Meer, eingesperrt in eine alte, etwas muffige Pension, suchte man plötzlich den Kontakt zum anderen Menschen... man sehnte sich mehr als an irgendeinem anderen Platz dieser Welt nach etwas Verständnis und nach einem Gefühl der Geborgenheit. Es war, als müßte man ein Empfinden innerer Angst betäuben.
„Warum sind Sie eigentlich nach hier gezogen?“ wollte sie plötzlich von ihm wissen.
Er lächelte. „Ich hin auf der Flucht“, sagte er.
Seine Antwort überraschte sie. Das letzte, was sie von ihm erwartet hatte, war Offenheit gewesen. „Auf der Flucht?“
„Genau wie Sie", bemerkte er.
„Ich?“
„Naja... wir alle fliehen vor etwas. Vor der unsinnigen Hast großer Städte, vor den Nachstellungen unserer Mitmenschen, manchmal auch nur vor etwas, das in uns ist und immer mit uns reist... wir bewegen uns immer im Kreise.“
Sie versuchte ihn festzunageln. Sie wollte sich nicht damit zufriedengeben, daß er sophistisch garnierte Plattitüden äußerte. Aber noch ehe sie eine Frage zu formulieren vermochte, wollte er wissen:
„Wie steht es mit Ihnen? Eine junge
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