Kommissar Morry - Terror um Mitternacht
kantige, entschlossene Kinn gemeinsam. Aber sonst gab es wohl kaum etwas, das sie verband. Spencer Wyck sah gewiß noch besser aus als Frank Morris, aber Frank hatte bedeutend entschlossener gewirkt.
„Es ist eine lange, phantastische Geschichte“, sagte er. „Ich will Sie nicht damit langweilen.“
„Phantastische Geschichten langweilen mich nie.“
„Es ist eine grauenhafte Geschichte."
Grace zog die Schultern hoch. „Wie aufregend!“
Er lächelte dünn und traurig.
„Keine Geschichte für ein Mädchen, das sich schon vor einem Gewitter fürchtet.“
Plötzlich fiel ihm ein, daß er ihr seinen richtigen Namen genannt hatte. Zu dumm! Was würde geschehen, wenn sie ihn beim Frühstück damit ansprach? Mrs. Sanderson hatte ihn allen Pensionsgästen als Mr. J. C. Stephurst vorgestellt...“
„Wenn Sie dabei sind, habe ich keine Angst.“
Er kämpfte mit sich. Es drängte ihn, sich diesem schönen, aufregenden Mädchen zu offenbaren . . . aber gleichzeitig war etwas in ihm, das ihn warnte. Plötzlich zuckte ein greller Blitz auf und fast unmittelbar danach folgte wie ein Kanonenschlag der Donner. Die Gardinen bauschten sich stärker und man hörte, wie draußen ein heftiger Regen niederging. Grace war aufgesprungen.
„Meine Güte“, sagte sie und legte eine Hand auf das Herz. „Ich habe mich furchtbar erschrocken.“
„Setzen Sie sich", meinte er beruhigend. „Das Gebäude hat in den vielen Jahrzehnten gewiß sehr viel schlimmere Gewitter überstanden.“
„Das ist kein Trost.“
Er umfaßte ihre schlanke Gestalt mit den Blicken: er sah ihre schmale Taille und bemerkte, wie sich der volle Busen beim Atmen hob und senkte. Er fühlte plötzlich, daß er sie begehrte.
„Setzen Sie sich doch wieder“, sagte er erneut.
Sie folgte der Aufforderung. Als sie ihn ansah, spürte sie die Spannung, der er ausgesetzt war.
„Erzählen Sie.“
Er atmete tief.
„Ich will es kurz machen. Sie sollen meine Lebensgeschichte hören... aber ich kann Ihnen noch nicht zusichern, daß ich Sie auch mit ihrem vorläufigen Abschluß vertraut machen werde.“
Nur keine Angst, dachte Grace grimmig. Kümmere dich nicht um den vorläufigen Abschluß. Ich werde für den endgültigen Abschluß sorgen! Und zwar noch in dieser Nacht.
„Meine Jugend enthält den Schlüssel zu allen späteren Geschehnissen. Als ich vier Jahre alt war, verlor ich die Eltern. Sie kamen auf einer Schiffsreise um. Der Dampfer, der sie in den Urlaub bringen sollte, lief auf eine Treibmine aus dem ersten Weltkrieg. Das Schiff sank mit Mann und Maus. Unter den Opfern waren auch meine Tante Daisy und Onkel Bert. Sie hinterließen ebenfalls einen Jungen..."
Spencer zögerte, den Namen auszusprechen. Aber dann sagte er: „Der Junge hieß Frank.“ „Wie furchtbar für Sie!“
„Es war nicht ganz so schlimm, wie man meinen sollte. Ein Kind gewöhnt sich rasch an die neue Umgebung... und die neue Umgebung für Frank und mich war das Haus unseres Pflegeonkels Benjamin Gutter, eines grundgütigen, sehr wohlhabenden Mannes, der sich viel Mühe mit unserer Erziehung gab.“
Grace beobachtete ihr Gegenüber sehr genau. Sie merkte ihm an, daß er nur zögernd sprach, und daß es ihn Überwindung kostete, das Geständnis vorzubereiten. Aber allmählich wurde er flüssiger und sicherer. Offenbar tat es ihm gut, sich einmal auszusprechen.
„Ich will Ihnen die Gegensätze ersparen, die mich von meinem Cousin trennen... er war meistens anderer Meinung als ich, und seine Interessen zielten in ganz andere Richtungen alls jene, die ich bevorzugte. Er war mit einem Wort, Materialist, während ich nie sehr großen Wert darauf legte, zu den Reichen dieses Landes zu gehören. Wir besuchten das gleiche College und die gleiche Universität. Frank studierte Wirtschaftsrecht, ich beschäftigte mich mit Philologie. Unsere Abschlußzeugnisse waren ausgezeichnet. Nicht ganz so ausgezeichnet war nach unserem Studium die Finanzlage von Onkel Benjamin. Unsere Erziehung hatte eine Menge Geld verschlungen und er hatte das Pech gehabt, mit wenig Glück an der Börse zu spekulieren. Als wir ihn verloren... er starb an einem Schlaganfall... fanden wir uns ziemlich mittellos auf der Straße.“
„Sie Ärmster!“
„Oh, die Entwicklung war für Frank viel schlimmer als für mich. Ich konnte sofort eine freilich schlechtbezahlte Stellung als Lektor eines Verlages bekommen, der sich mit der Herausgabe von wirtschaftspolitischen Büchern befaßte. Frank hingegen war mit
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