Kommissar Pascha
Zülfü Demirbilek tatsächlich zurück in die Türkei. Seine Eltern nahmen es gelassen. Arbeit ging vor, er sei nun mal in Deutschland aufgewachsen, erklärten sie ihrer Schwiegertochter. Selma aber war so wütend auf ihren Ehemann wie nie zuvor in ihrem Leben. Er arbeitete zu der Zeit zu viel, machte Überstunden, quälte sich mit seinen Fällen ab. Und auch während der wenigen Zeit, die er mit der Familie verbrachte, war er in Gedanken bei Mördern und anderen Kapitalverbrechern. Damals mehr in Stadelheim unterwegs als zu Hause, um mutmaßliche Drahtzieher einer organisierten Vereinigung zu verhören. Nachdem er die Täter überführt hatte, darunter einen der großen Fische, kam er mit einem riesigen Strauß Rosen für Selma nach Hause und zwei Konzertkarten für die Philharmonie für Aydin. Für Özlem hatte er Fußballkarten für die Allianz-Arena organisiert. Doch die Zeit, in der er mit einer Geste alles wiedergutmachen konnte, war vorüber, ohne dass Demirbilek es auch nur im Ansatz bemerkt hatte. Selma, Özlem und Aydin hatten die Familiensituation ohne ihn besprochen und geklärt. Nach der Scheidung sollte Özlem bei ihrem Vater in München bleiben, Aydin mit seiner Mutter nach Istanbul ziehen. Er wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Er war niedergeschmettert. Er war wütend. Er war verzweifelt und enttäuscht. Damals von Selma. Heute im Rückblick von sich selbst. Er hatte seine Familie auseinandergebracht, seine Familie verloren, weil er dumm gewesen war.
An dem schönen Sommertag fanden die beiden Freunde eine letzte Parkbank im stillgelegten Südfriedhof. Unter den wachsamen Augen der 1813 verblichenen Großhandelstochter Elfriede Senner aßen sie die hervorragenden Sandwiches. In der friedlichen Ruhe packte Robert das
tavla
aus seiner Tasche. Sie bauten die Steine auf. Demirbilek schleuderte den Würfel aus dem Handgelenk auf das Brett. Eine Drei. Robert würfelte eine Fünf und durfte anfangen. Nach drei gewonnenen Spielen notierte Robert seine Siege ins Büchlein. Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung. Viel geredet hatten sie nicht miteinander. Aber das war egal.
Auf dem Weg ins Büro erhielt der Kommissar einen Anruf von Vierkant. Sie bat ihn, Ali Karaboncuks Befragung in dessen Wohnung vorzunehmen, sie erwarte ihn dort. Auch Cengiz meldete sich und berichtete, dass die Telefonnummer niemand anderem als der Unternehmertochter Gül Güzeloğlu gehöre. Die zweite handfeste Spur zu der prominenten Familie, schoss es Demirbilek durch den Kopf, als er die Eingangstür des fünfstöckigen Gebäudes in der Wirtstraße erreichte. Ein Holzklotz hinderte die Tür daran, einzuschnappen.
Demirbilek betrat den Aufzug und drückte den Knopf zum dritten Stock. Kurz bevor die Aufzugtüren sich schließen konnten, sprang ein Terrier, gefolgt von einem Jogger mit hochrotem Kopf, in die Kabine. Demirbilek befürchtete, Erste Hilfe leisten zu müssen. Der Mann hechelte auf dieselbe kurzatmige Weise wie sein Hund. Der Jogger drückte mit zittrigem Finger das fünfte Stockwerk, lehnte sich erschöpft an die Wand und fischte aus der Plastiktüte eine ungeöffnete Packung Zigaretten heraus. Der Aufzug fuhr los. Der Hund bellte nicht. Darüber war der Kommissar froh. Bevor der Mann die Zigarette anzündete, blickte er in Demirbileks mahnendes Gesicht und steckte die Zigarette zurück in die Packung. Demirbilek dankte für seine Nachsicht und stieg aus. Die Wohnungstüren gingen von einem schmalen Gang weg. Er suchte die Namensschilder ab. Halb Osteuropa war vertreten, einige türkisch klingende Familiennamen waren darunter. Deutsche Namen konnte er nicht ausmachen.
Schließlich fand er das Namensschild von Ali Karaboncuk. Dennoch ging Demirbilek davon aus, dass der Mann nicht allein wohnte. Er war der ältere Bruder, er hatte sicher Familie. Die Wohnungstür stand offen. Schluchzen drang gedämpft in den Gang. Er klopfte und betrat die Wohnung. Im engen Flur zog er die Schuhe aus und schlüpfte in Gästeschlappen, die er aus einem kleinen Schuhregal zog. Ikea, was sonst?, registrierte er. Er fischte eines seiner Taschentücher hervor, um den Schweiß vom Gesicht zu wischen.
Ali Karaboncuk saß mit den Händen vor dem Gesicht auf der Wohnzimmercouch und schluchzte hemmungslos. Auf dem 40 -Zoll-Fernseher wurde gerade eine türkische Soap durch Werbung unterbrochen. Der Ton war leise. Die Schachtel einer türkischen Zigarettenmarke sowie ein Handy lagen auf dem höhenverstellbaren Wohnzimmertisch. Daneben
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