Kommissar Pascha
treu, Männerbekanntschaften zu pflegen, es aber nicht so weit kommen zu lassen, sich zu verlieben oder einer körperlichen Vereinigung einzuwilligen.
»Ich kenn dich«, sagte die Kleine neben ihr und riss Gül aus ihren Gedanken.
»Ja?«, fragte Gül freundlich.
»Du warst Lady Gaga im Speed,
doğru mu?
«
»
Evet, canım.
Hast du Fotos von dem Auftritt gesehen?«, wunderte sich Gül.
»Nee, einen Film im Internet. Du warst echt geil!«, begeisterte sich das Mädchen.
»Danke«, sagte Gül erstaunt.
»Aber heute bist du traurig, oder?«
»Merkt man das?«
»Weiß nicht. Ich habe es jedenfalls gemerkt … Was hast du denn?«
Die anderen Fahrgäste waren Gül egal. Auch der Mann in Jeansjacke, der zwei Sitzreihen entfernt in die Sonderangebote des Aldi-Prospekts vertieft war, interessierte sie nicht.
»Meinem Vater geht es schlecht. Er wird bald sterben.«
»Oh«, erwiderte das Mädchen mit tonloser Stimme. »Das ist schlimm.«
»Ja.«
»Warum bist du nicht bei ihm, wenn er bald stirbt?«, fragte das Mädchen.
»Ich habe ihm etwas versprochen und bin gerade auf dem Weg, mein Versprechen einzulösen«, erklärte Gül.
»Dann beeil dich, bitte. Er ist sicher traurig, wenn du nicht bei ihm bist, wenn er stirbt«, erwiderte das Mädchen und steckte ihren Kopf wieder in das Mathematikbuch.
Der Deutsche saß mit seinem Rucksack auf dem Schoß zu weit weg und verstand nicht genug Deutsch, um das Gespräch belauschen zu können. Er wartete geduldig und lugte immer wieder über den Aldi-Prospekt. Gül fuhr bis zur Haltestelle Starnberg, verabschiedete sich von dem Mädchen und stieg aus. Er folgte ihr in gebührenden Abstand bis zum Taxistand. Dort stieg Gül in einen Wagen. In Panik auszubrechen gehörte nicht zu den Wesenszügen des Deutschen. Er überlegte, ob er auch ein Taxi nehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen holte er aus seinem Rucksack einen Draht. Mit routinierten Handgriffen brach er einen Kleinwagen auf und startete zwei Minuten später den Motor.
Nach der zehnminütigen Fahrt über das hügelige oberbayerische Land stieg Gül an der Einfahrt eines gepflegten Parks aus und schritt zu einer altehrwürdigen Villa im Jugendstil. Das Vogelgezwitscher und die strahlende Sonne besänftigten sie ein wenig. Sie kannte zum Glück die Villa, die freundliche Atmosphäre im Inneren hatte nichts von einem sterilen Krankenhaus. Sie blickte sich in dem friedlichen Park um und dachte mit Verbitterung daran, dass sie vor drei Monaten schon einmal hier gewesen war. Ein paar Stunden vor dem unsäglichen Auftritt hatte ihre Periode eingesetzt. Es war zu spät gewesen, um abzusagen. Sie sorgte sich um ihr enges Kostüm. Eine Monatsbinde, die sie normalerweise benutzte, wäre peinlich aufgefallen. Auf dem Weg zum Club besorgte sie sich die erste Packung Tampons in ihrem Leben. Später bei der Aufführung kämpfte sie gegen das ungewohnte, unangenehme Gefühl an. Wahrscheinlich, vermutete sie, war es passiert, als sie gegen Ende ihres Auftrittes den Dildo durch die gespreizten Beine führte. Was für eine Ironie des Schicksals, ärgerte sie sich. Wegen dieser Dummheit ließ sie sich am nächsten Morgen von Burak zur Klinik fahren. Sie wollte die Operation schnell hinter sich bringen, um ihre Verheiratung als intakte Jungfrau nicht zu gefährden. Niemand hätte ihr geglaubt, dass kein Mann beim Verlust ihrer Unschuld beteiligt war.
Gül atmete tief durch. Sie wusste, was sie erwartete, und betrat die Klinik, um ein zweites Mal dem Versprechen nachzukommen, das sie ihrem Vater gegeben hatte.
Der Deutsche parkte den gestohlenen Kleinwagen und beobachtete Gül aus sicherer Entfernung. Nach zehn Minuten spazierte auch er den Fußweg entlang. Am Eingang ließ er seine Magnetbrille zuschnappen und überflog einen in mehreren Sprachen verfassten Willkommenstext des gynäkologischen Zentrums. Laut den Informationen, die er von seinem Auftraggeber hatte, sollte Gül sich einem Jungfrauentest unterziehen. Das tat sie gerade dem Anschein nach. Dennoch wunderte sich der Deutsche, warum sie alleine war. Wieso wurde sie nicht von einem weiblichen Familienmitglied begleitet? Armes Mädchen, bedauerte er sie und fuhr mit dem Kleinwagen zurück zur S-Bahn-Station. Er hatte Glück. Der Parkplatz war frei geblieben. Niemand würde merken, dass der Wagen einen Ausflug gemacht hatte.
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D er Nockherberg-Biergarten in Obergiesing, zehn Fußminuten von Zeki Demirbileks Wohnung entfernt, war sehr
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