Kommissar Steen 01 - Unruhe
dieser Terrasse aus konnten sie daher die ganze Stadt überblicken. Rathausturm, Vor Frue Kirke, die beiden SAS -Hotels und das H. C. Ørstedswerk mit seinen gigantischen Wimpeln aus weißem Rauch vor dem grauschwarzen Himmel.
Die Plastikeule thronte dort, wo sie immer gesessen hatte. Axel und John Darling gingen zu dem Geländer und studierten die Stelle, an der Axel die Kamera gesehen hatte. Eine etwa zwei Zentimeter lange, glänzende Ritze war zu sehen, die noch neu sein musste. Axel trat zurück und sah auf den Boden der Terrasse. Nichts. Oder war das Staub da am Rand der Holzpanelen? Nein, es sah aus wie Plastikpartikel.
John Darling beugte sich vor und sah vorsichtig über das Geländer. Ein abgerissener Kamerafuß lag in der Dachrinne. Axel rief BB an.
»Wir brauchen dich hier oben, Fingerabdrücke, Bilder, Asservatenbeutel und die ganze Chose, jetzt sofort.«
Er trat wieder an das Geländer heran, ohne es zu berühren, und sah zu dem schräg unter ihnen liegenden Tatort hinüber. BB war bereits auf dem Weg zum Wagen, um seine Ausrüstung zu holen. Axel ließ den Blick schweifen. Auf der einen Seite lagen der Kapelvej und Blågårds Plads, ein ehemals rotes undraues Arbeiterrevier, später das Revier der Linksintellektuellen, die sich in den zahlreichen Kneipen und Kaschemmen trafen, der Vereinigungen, die sich mit der dritten Welt solidarisch erklärten, der revolutionären Splittergruppen, der Ökoläden; ein bei Hausbesetzern und Autonomen äußerst beliebter Stadtteil. In den Achtzigern zogen Flüchtlinge aus dem Mittleren und Nahen Osten und aus Nordafrika in die vielen Wohnungen ein, die ihnen die Stadtverwaltung zuwies. Und ein Teil ihrer Kinder sah das Viertel nun als rechtsfreien Raum mitten in einem Land, das sie spüren ließ, dass es nichts von ihnen wissen wollte. Das machte Axels Kollegen jede Menge zusätzliche Arbeit. Die Banden am Blågårds Plads hatten den Rauschgifthandel in Nørrebro, der jedes Jahr zweistellige Millionenbeträge umsetzte, unter Kontrolle gebracht. Der harte Kern hatte alle Taten begangen, die das Strafgesetzbuch hergab, vom bewaffneten Raubüberfall, über Körperverletzung und Messerstechereien bis hin zu Mord – unter anderem an einem unbedarften italienischen Rucksacktouristen, der sich auf der Suche nach etwas Haschisch nach Nørrebro verirrt hatte und das Viertel in einem Notarztwagen wieder verließ, mit sechs tödlichen Messerstichen.
Axel schaute in die andere Richtung über die Reihen von Mietskasernen, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren. Dort lag die Jægersbrogade, ein nicht enden wollendes Stadterneuerungsprojekt, in der sich die Hells Angels eingenistet hatten und Haschischklubs betrieben. Die Hells Angels mischten sich in den aktuellen Konflikt nicht ein, mit ihren Cromagnon-Normen hegten sie keinerlei Sympathie für das Jugendzentrum und den alternativen Lebensstil seiner Benutzer.
Axel wandte sich an John Darling.
»Wer bringt hier oben eine Kamera an?«, fragte er und fügte, bevor der Kollege antworten konnte, hinzu: »Und lässt sie wieder verschwinden?«
»Wer sagt denn, dass das ein und dieselbe Person sein muss?«, fragte John Darling.
»Es muss jemand sein, der Zugang zum Dach hat. Wir brauchen ein paar Leute, die mit allen Hausbewohnern sprechen, sofort. Ich muss jetzt wieder rüber zur Leichenschau. Ich schlage vor, du postierst zwei Uniformierte unten am Eingang, damit sie alle Leute befragen, bevor sie zur Arbeit oder sonst wohin fahren. Ich komme, sobald der Schwede und ich fertig sind.«
Axel ging zurück zum Friedhof. Sein Magen knurrte. Allzu lange durfte es nicht mehr dauern, bis er was zu essen bekam.
Der Bereich um das Opfer herum war vollständig abfotografiert worden. Alles, was in der Nähe der Leiche gelegen hatte, war eingesammelt worden und lag nun in einhundertzweiundsiebzig Asservatenbeutel verpackt im Wagen der KT , darunter Proben des Erdreichs, Haare, die mit einem speziellen Handstaubsauger aufgesaugt worden waren, der auch allerkleinste Gegenstände aufnahm, die mit bloßem Auge kaum zu sehen waren, außerdem Flusen, Staub und Krümel, ein Draht, sechs Stücke Schnur in unterschiedlicher Länge, eine Zigarettenkippe, vier verschiedene Kronkorken, eine Pizzaschachtel, drei Coladosen, siebenundzwanzig Äste und die zwei Hälften eines zerbrochenen Pflastersteins. Die Mauer hinter und über der Leiche war mit Fingerabdruckpulver bedeckt, am Boden waren diverse Abdrücke von Schuhsohlen und Reifen
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