Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Er sah noch nicht einmal in ihre Richtung oder überhaupt in Richtung des Zuschauerraumes.
Als Meißner in der Pause ins Foyer kam, stand Marlu in der Schlange vor der Bar und kam schließlich mit einem Glas Sekt zurück. Sie stellte sich an einen der Stehtische. Als er hinter ihr vorbeiging, flüsterte er ihr zu: »Du bist im Dienst – auch wenn du nicht danach aussiehst.«
Er selbst ging in den Kassenraum hinunter und blätterte in einer Theaterzeitschrift herum. Sie folgte ihm an ihrem Sektglas nippend.
»Und?«, fragte Meißner. »Hast du irgendetwas bemerkt?«
»Nichts«, sagte sie. »Wo versteckt ihr euch?«
»Oben auf der Galerie. Wir haben alles im Blick. Er hat seinen großen Auftritt erst am Ende des Stückes.«
»Hast du mal überlegt, was das für ein Zeichen sein könnte, das er mir geben will?«
»Da fällt mir leider nichts Originelles ein«, sagte Meißner. »Bin halt eher der fantasielose Typ. Bulle eben. Aber dafür weiß ich, dass ich ihn kriegen werde, egal wo, und wenn nötig am Hinterausgang. Fischer wird ihn dort abfangen, wenn er aus irgendeinem Grund auf deine Gesellschaft verzichten und lieber morgen ein gelbes Briefchen mit falschherum aufgeklebter Marke verschicken möchte.«
»Na, na«, sagte Marieluise. »Solange wir nichts gegen ihn in der Hand haben, solltest du ein wenig zuvorkommender mit ihm umgehen. Was hast du so plötzlich gegen ihn?«
»Ich bin nervös. Und ich fühle mich von ihm zum Narren gehalten. Es juckt mich regelrecht in den Fingern, die Schere zu zücken und dem Puppenspieler die Fäden durchzuschneiden, an denen er seine Marionetten aufgehängt hat.«
»Spielverderber.«
Sie hätte ihn gerne berührt, aber das ging nicht. Würde es überhaupt irgendwann gehen? Marieluise stöckelte zurück zu den Tischen und stellte ihr leeres Glas ab, bevor sie wieder ihren Sitzplatz ansteuerte.
Im zweiten Teil des Stückes hatte Gunter Naum seinen wichtigeren Auftritt. Der Vater, der die Unschuld seiner Tochter verloren glaubt, nachdem ihn die Gräfin über die wahren Zusammenhänge ihres Aufenthalts auf dem fürstlichen Lustschloss in Kenntnis setzt, stopft sich verzweifelt die Messer aus dem Besitz der mordlustigen Gräfin in seine Manteltaschen. In dem Augenblick, als seine Verwirrung den Höhepunkt erreicht und er sich zu dem grausamen Entschluss durchringt, seine Tochter zu töten, um ihr weitere Schmach zu ersparen, hielt Naum inne und blieb stumm, dem Publikum zugewandt, stehen. Marlu erstarrte, als sie seinen Blick auf sich ruhen spürte. Genau in diesem Augenblick schwebte etwas von der Decke auf die Bühne. Wie die Lichtspur einer verglühenden Sternschnuppe sank ein kleiner weißer Punkt im Scheinwerferlicht auf den Bühnenboden. Ein Papierschnipsel, der von sich aus zu leuchten schien?
Die Zuschauer folgten noch der Bahn des Lichtpunktes mit den Augen, als in die Stille hinein Emilia auf der Bühne erschien. Der Vater stürzt sich auf sie. Umarmt sie. Will er sie töten? Sie spricht zu ihm, und er erkennt, dass ihre Ehre noch nicht verloren ist. Er ist glücklich, die schreckliche Tat nicht begehen zu müssen, und umfängt seine Tochter, hinter ihr stehend, den Dolch noch in seiner Hand. Doch Emilia, aus Angst, der Verführung durch den Prinzen nicht widerstehen zu können, packt seine Hand und stößt sich den Dolch in den Leib. Der Vater wiegt sein totes Kind noch im Arm, als das Licht schon erloschen ist.
Höflicher, gemäßigter Applaus. Das Publikum, die jungen Leute, schienen ein wenig schockiert zu sein. Der Schluss wirkte wenig zeitgemäß und erfüllte doch seinen Zweck. Er rüttelte wach, er verstörte. Naum kam noch zweimal auf die Bühne, verbeugte sich, sah noch mal in Marlus Richtung.
Der Applaus verebbte, und die Zuschauer verließen durch die beiden Seitenausgänge den Saal. Marlu beeilte sich nicht. Naum musste sich umziehen, vielleicht noch duschen. Die Menschen drängten sich im Foyer an ihr vorbei Richtung Ausgang. Vor der jetzt geschlossenen Kasse blieb sie stehen. Holler wartete am Ausgang, Stefan im Gang zu den Toiletten. Sie zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche, rote Gauloises, die sie in Roxannes Wohnung liegen gesehen hatte, und zündete sich eine an. Sie schmeckte grässlich, aber sie beruhigte doch ein wenig. Mit dem Blick Richtung Kasse rauchte sie ihre Zigarette zu Ende. Als sie sie im Aschenbecher ausdrückte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Mann durch das nun fast leere Foyer auf sie zukommen. Hoffentlich hatten
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