"Kommst du Freitag"
meine Mutter die Dreiraum-Wohnung meiner Kindheit im Plattenbaugebiet verließ, in der ich zwölf Jahre lang gelebt hatte und erwachsen geworden war. Ich fand es richtig: nichts wie weg dort! Und dachte keine Sekunde mehr mit Wehmut daran.
Ich hatte nicht mehr die Gabe innezuhalten. Ich war mit dem neuerlichen Wechsel nach Hamburg dabei, ortlos zu werden und dadurch auf gewisse Weise haltlos. Ich spürte, Heimat würde nie mehr eine Stadt sein, in der ich wohne, sondern ist über die Jahre hinweg der Ort geworden, an dem der andere auch sein kann. Heimat war sein Loft in Leipzig, unser Hof in Brandenburg, die Ferienwohnung an der Ostsee, das Hotelzimmer in Barcelona. Der Nachteil war, dass alle Orte sich in ihrer Gewichtung annäherten. Sie waren gleich bedeutend oder gleich egal. Das Bauernhaus rangierte in der ersten Zeit nur unwesentlich über meinem eilig ausfindig gemachten Apartment in Hamburg und das wiederum nur knapp über dem für zwei Wochen gemieteten Ferienhaus in der Provence. Heimat war kein Fleck Erde mehr, sondern ein Gemisch aus Gegenständen und Situationen geworden, aus Klamotten, Kulturtaschen, Lieblingsrestaurants, Düften, Ritualen, Familiengeschichten, Stress, Pflichten, Reisen, Partys und sich überlagernden Erinnerungsfetzen. Diese Lebensmischung sortierte sich allein durch meine Zwänge im Job, diesem andauernden Freitagabend-bis-Montagfrüh, und ließ sich auf Dauer nur durch adäquate berufliche Herausforderungen rechtfertigen, zeitlich, wirtschaftlich, emotional.
Freunde und Kollegen und Themen sprangen auf unseren Zug durch die Zeit auf und wieder ab. Und wir sprangen auf ihre Züge auf und wieder ab. Man traf sich, man verlor sich.Ich hatte Mühe, wenigstens Milla, Helene, meine Cousine oder meine Mutter nur halb so oft zu sehen, wie ich wollte. Ereignisse verschwammen. Hatten wir Silvester 2004 zu Hause bei Mark in Mitte verbracht oder in dem Club im Wedding oder beim Tanz in der „Volksbühne“, in der Villa am Zeuthener See oder bei der Motto-Party in unserem Landhaus, die trotz unserer Abscheu gegenüber Kostümfesten einfach nur herrlich war? Keine Ahnung mehr.
Ich begann, Paul um seine Sehnsucht nach Heimat zu beneiden, für die ich ihn früher bedauert hatte. Er war als westdeutsches Scheidungskind mit zwölf Jahren in überteuerte Internate abgeschoben worden und abgehärtet von unzähligen Umzügen, Wechseln, Rauswürfen, Enttäuschungen und Fluchten, die daraus folgten. Als seinen Schwestern und ihm noch das geliebte Ferienhaus seines gestorbenen Vaters abhandenkam, durch eine Erbstreiterei, drängte es ihn, sich endlich etwas Eigenes zu schaffen. Etwas, das ihm keiner mehr nehmen konnte.
Die hohen Wärmeverluste seiner Kindheit schlugen sich bei Paul, sozusagen umgekehrt proportional, in einer umso größeren Affinität zur eigenen Scholle nieder.
Unser rotes Backsteinhaus auf dem kargen brandenburgischen Sandacker verband sich für Paul Monat um Monat mehr mit dem Gefühl, eine neue Heimat gefunden zu haben. Ich dagegen mochte den Hof zwar auch und liebte die Zeit dort. Hätte ich ihn aber verlassen und aufgeben müssen, aus welchem Grund auch immer, hätte mich das nicht verletzen können. Oder verletzten dürfen. Solange wir keine Kinder hatten, wollte ich ein Haus hinter mir lassen können wie der Agent auf der Flucht.
Da war eine Brandmauer um mein Herz entstanden, auch die hatte etwas mit der Entlassung im Jahr sieben zu tun. Und dagegen half kein Champagner.
Das Ende einer Dienstfahrt (die Sinnfrage)
Anderswo wüten Kriege, morden Diktatoren und verseuchen Überschwemmungen das Land. Du selbst schreibst dauernd über die dunklen Seiten des Lebens, über geschändete Kinder, schwerverletzte Soldaten und zu Tode gequälte Hilfsarbeiter. Und jetzt heulst du, weil dir diese Kleinigkeit widerfährt? Come on!
April, ein Freitag (was sonst), 22.20 Uhr, Berlin-Ostbahnhof. Finster, kühl. Ich war zwei Stunden später als geplant aus Hamburg losgefahren. An mir lag es nicht. Der ungehobelte alte Redakteur, der meinen Text auf seine Fakten hin prüfen sollte, war nur leider in die Kantine verschwunden, für über eine Stunde und als erste Amtshandlung nach seinem Dienstantritt um 16 Uhr. Er hatte zu diesem Zeitpunkt der Woche etwa dreißig Arbeitsstunden hinter sich, ich etwa 48 und an diesem Tag keine Zeit zum Mittagessen gehabt. Er aß sich satt, ich wartete. Mein Text lag schon seit zwei Tagen vor. Es hätte alles längst erledigt sein können. Darum hatte ich
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