Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
alles recht, was eine Handlung, Dialoge und das Flimmern von 24 Bildern pro Sekunde bot.
    «Es sind die Filme oder Déjà-vus. Die Wahrnehmung registriert das gleiche Bild zweimal, eine kurzzeitige Inbesitznahme, ein Streich des Kameramanns, der von seiner eigenen Ästhetik hingerissen ist», sagte Ray, indem er ihm einen Blick zuwarf. «Vielleicht waren Sie ja auch tatsächlich schon hier. Vielleicht haben Sie in Wirklichkeit ein verdammt gutes Gedächtnis.» Ein Witz. Samson kicherte, dann richtete er sich auf, verwundert über sich selbst.
    Sie fuhren zu einem großzügig angelegten Haus hinauf, einem neumodischen, flachen Glas- und Steinbau, der sich am Felsvorsprung entlang wand.
    Es war vollkommen windstill jetzt. Ray stellte den Motor ab.
    «Sie sehen müde aus. Ich zeige Ihnen, wo Sie hier sind, dann sollten Sie erst einmal schlafen. Reden können wir morgen früh.» Er öffnete die Tür und stieg aus, wobei er Samsons Tasche mit leichtem Griff vom Rücksitz hob.
    Das Haus reichte bis an die Felskante, und das Wohnzimmer endete in einer Glasfront mit Blick auf die Stadt. Sie standen nebeneinander und sahen ins Tal hinunter.
    «Wie schön», sagte Samson mit dem sicheren Gefühl, zu Ray könne er so etwas sagen, das sei es, was der Doktor wollte, aber auch, weil er es wirklich meinte. Es war schön, so ehrgeizig, die Freihandinterpretation einer Stadt. Aus solcher Höhe tat das Wissen um die gleichzeitigen kleinen Dinge in der Ferne gut: Menschen, die gerade die Auskunft wählten, die Pillen schluckten, Liebschaften beendeten, ihren Namenszug schrieben. Zwölf Millionen Menschen, die einen der unsichersten Flecken der Erde bewohnten, von Natur aus katastrophal, bedroht von Flut und Feuer. Die aber auf gleicher Wellenlänge funkten. Okay, Empfang schlecht, bitte nochmal kommen.
    «Ja, wahrhaftig. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal hierher kam. Es ist über dreißig Jahre her. Damals sah das Haus anders aus. Ich hatte eine Frau und Kinder. Oft stand ich mitten in der Nacht auf, stellte mich ans Fenster und schaute hinaus. Ich hatte das Gefühl, wohltätig zu sein. Ich glaubte, Menschen helfen zu können. Einmal rief mich jemand an, die falsche Nummer. Er dachte, ich sei Psychiater. Manchmal machen sie das, nehmen einfach eine Nummer aus dem Telefonbuch. Er wollte sich umbringen, und ich sprach die ganze Nacht mit ihm. Er stotterte, und ich hörte zu. Dann fragte er, ob ich noch da sei. Wir redeten stundenlang, und zwischendurch schwiegen wir, während ich auf die Stadt hinuntersah und er auf die Straßenecke, wo er wohnte, wo, sagte er nicht. Ich glaubte den Ozean zu hören, aber vielleicht war es die Klimaanlage oder der Wind. Als wir endlich aufhörten, meinte er, er habe es sich fürs Erste anders überlegt. In den nächsten Tagen las ich alle Todesanzeigen, aber er hatte mir seinen Namen nicht gesagt. Egal, solche Tode kommen sowieso nicht in die Zeitung.»
    «Ihnen bei was helfen?»
    «Was?»
    «Was Sie glaubten, wobei Sie Menschen helfen könnten?»
    «Ich weiß nicht, wirklich. Ich bin Arzt. Ich wollte Menschen helfen. Ich war Idealist. Ich betrachte das nicht wie eine Stadt. Ich glaubte, sie zu kennen. Genau.»
    «Die mit einer gewissen Sehnsucht?»
    «Mit einer ungewissen Traurigkeit, ja.»
    «Und Sie?»
    «Ich? Ich wachte nachts auf und sorgte mich um die Sicherheit meiner eigenen Kinder. Ich machte die Tür einen Spalt auf und sah ihre zusammengekauerten kleinen Gestalten unter der Decke, die sich regelmäßig hob und senkte. Haben Sie Kinder?»
    «Nein.»
    «Hätte ich auch nicht angenommen. Arthur hat nichts davon gesagt.»
    «Und was hat Lavell gesagt? Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Was er Ihnen wohl gesagt hat, dass Sie mich hierher fliegen lassen.»
    «Er sagte, Sie seien besinnungslos in der Mojave-Wüste gefunden worden; man habe Ihnen bei einer Kraniotomie ein juveniles pilozytisches Astrozytom entfernt; Sie besäßen keinerlei Erinnerung außer an die Kindheit, und Sie ließen trotz der Fähigkeit, neue Erinnerungen anzulegen, wenig oder kein Verlangen erkennen, sich zu erinnern. Weiter?»
    «Ja.»
    «Er sagte, Sie seien hochintelligent, und Sie bekundeten Interesse an den Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik. Er erzählte mir von einer faszinierenden Zukunftsvision, die Sie im Zusammenhang mit dem Klonen entwickelt hätten.»
    «Ist es das, was Sie machen?»
    «Klonen? Du lieber Gott, nein.» Ray grinste.
    Samson sah sich in dem dunklen Wohnzimmer um. An den Wänden

Weitere Kostenlose Bücher