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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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York anrief, nicht die Telefonschnur aus der Wand gerissen hatte.
    Er schloss die Augen und saß ganz still. Er würde nicht ins Labor gehen und nach Rays Nummer fragen. Er würde die Jalousien herunterziehen, sich aufs Bett legen und versuchen, sich zu beruhigen. Es muss eine Erklärung geben , dachte er. Bald würde Ray zurückkommen – er musste zurückkommen – und mit seiner wohltuenden Stimme und seiner Eloquenz alles in Ordnung bringen.
    Aber drei Tage vergingen ohne eine Spur von Ray, und als Samson endlich Licht in seinem Büro brennen sah, rannte er durch die Dunkelheit und trat ihm praktisch die Tür ein. Aufgeputscht von Adrenalin, lief er schnurstracks zum Schreibtisch und fegte alles auf den Boden, was Ray vor sich ausgebreitet hatte, die Papiere mitsamt dem gläsernen Briefbeschwerer, der in Stücke brach. Ray, der alterslose Doktor, dessen makrobiotisches Dasein allein schon für ein ganzheitliches Gutes stand, der Mann, der zum Führer unter den Menschen geboren war, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Weder regte sich Protest, noch reagierte er schockiert. Er war gleichmütig wie Gandhi, unbeirrt unter Irren, denn er wusste, notfalls konnte er sich auf seine Stärke verlassen, seine vergeistigte Erleuchtung, und augenblicklich töten – mit einem gnädigen Stoß der Hand ins Sonnengeflecht.
    Eisig sahen sie einander in die Augen, bis Samson sich schließlich zitternd abwandte und zum Fenster ging, den Blick über das Tal schweifen ließ. Es war dunkel draußen, aber er konnte noch die Umrisse der Bergkette erkennen, hinter der sich ein anderes einsames Tal befand, und dahinter wieder einen zerklüfteten Höhenzug, und so weiter in Wellen gewaltiger Trostlosigkeit. Er fühlte sich verraten, und es gab niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Sein Bewusstsein war in einer Weise vergewaltigt worden wie niemandes je zuvor. Es war eine grausame Einsamkeit.
    Er wirbelte herum und starrte Ray an.
    «Wo waren Sie?», wollte er wissen.
    «Lassen Sie uns doch versuchen, Ruhe zu bewahren.»
    « Ruhe? » Er wollte seine Sache leidenschaftlich vortragen, Verständnis fordern. «Sie haben mein Gedächtnis usurpiert, haben mir eine Atombombe in den Kopf geladen, und dann sind Sie verschwunden, einfach so, ohne ein Wort, und jetzt soll ich Ruhe bewahren?»
    «Ich hatte etwas Persönliches zu erledigen. Mein Sohn Matthew war krank, ein Notfall, ich musste dringend nach San Francisco. Tut mir Leid, aber ich hatte keine Möglichkeit, vor meiner Abreise mit Ihnen zu reden. Es war mitten in der Nacht, Sie schliefen schon. Und niemand hat hier irgendjemandes Gedächtnis usurpiert .»
    Es gab so viel zu sagen; er wusste kaum, wo er anfangen sollte. «Es ist, als wäre ich von den Toten auferstanden, nur um festzustellen, dass alles weg ist, was ich kannte. Dass ich allein bin, und Sie – der einzige Mensch, von dem ich mich verstanden glaubte, dem ich vertrauen konnte … Ich dachte, Sie hätten verstanden …» Er spürte, wie er einen roten Kopf bekam vor lauter Frustration über seine Unfähigkeit, in Worte zu fassen, was mit ihm geschehen war, zu erklären, was für einen Schaden Ray angerichtet hatte.
    «Aber ich verstehe doch. Deshalb bin ich doch hier, sind wir doch hier.»
    «Verstehen!» Samson hätte fast ausgespuckt. «Nach allem, was Sie gesagt haben von wegen aus unseren eigenen Köpfen heraus- und in andere hineinschlüpfen? Dem ganzen Unsinn mit dem Teilen?»
    Ray schüttelte den Kopf, sein Ausdruck war streng und missbilligend.
    «Für unsere Forschung ist dies ein kritischer Moment. Es kommt darauf an, dass Sie ruhig bleiben», flehte er.
    In Samson lief die Enttäuschung Sturm gegen Rays Weigerung, zu verstehen, ja überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wie er sich fühlte. Es war, als hätte man ihn in seinem eigenen Kopf gefesselt und geknebelt.
    Ray fuhr selbstvergessen fort. «Bei Versuchen, wichtigen Versuchen, gibt es immer Momente, in denen die Dinge …»
    Von plötzlichem Zorn erfasst, holte Samson aus und traf Ray mitten ins Gesicht. Er spürte seine Faust landen. Dann kam es ihm vor, als verfolgte er das Nachspiel in Zeitlupe: Rays nach hinten geworfener Kopf (wie alt er jetzt aussah, obwohl das Blut, das ihm aus der Nase spritzte, lebhaft frisch erschien), sein gegen die Wand gesunkener Körper und die Hand, mit der er sich über das Gesicht fuhr, während er vor Samson zurückwich, vor etwas, was er bei all seinen Kalkulationen nicht berücksichtigt hatte, der Möglichkeit, sein

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