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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Forschungsobjekt könne was – einen eigenen Kopf haben? Vielleicht war Ray am Ende doch ein ganz normaler Mensch, fehlerhaft wie jeder andere, einer, der sich furchtbar irren konnte, wo er glaubte, einem hehren Zweck zu dienen. Das Blut tropfte ihm jetzt zwischen den Fingern hindurch, in seinen Augen stand die Ungewissheit, was von einem, der gerade seine Macht über ihn entdeckt hatte, als Nächstes kommen würde. Samson betrachtete ihn verwundert, erstaunt über seine eigene Kraft und darüber, wie schutzlos, wie menschlich Ray plötzlich wirkte. Er blickte von seiner Faust zu Rays Gesicht, im Bewusstsein dessen, dass etwas geschehen war: nicht der Schlag, sondern etwas viel Entscheidenderes, hinter das es kein Zurück mehr gab. Ray hatte sich verrechnet – das wussten sie beide –, aber nur Samson begriff, wie sehr. Nein, Ray war kein schlechter Mensch. Er war etwas, was vielleicht noch schwerer zu akzeptieren war: ein Durchschnittsmensch, nicht besser oder schlechter als irgendwer sonst.
    «Teilen? Aus dem eigenen Kopf herausschlüpfen?» Samson hörte sich zwar selber sprechen, aber er wusste nicht, ob seine Worte Ray erreichten. «Ich würde sagen, so allein war ich noch nie.»
    «So allein erinnern Sie sich nicht, je gewesen zu sein», korrigierte Ray, indem er sich die blutige Hand an seinem Hemd abwischte und ertastete, wo die Nase gebrochen war. Der blaue Stein an seinem Ring blitzte in einem Lichtstrahl. «Vielleicht war es die falsche Erinnerung», räumte er ein. «Vielleicht hätte ich lieber etwas weniger Dramatisches auswählen sollen …»
    «Vielleicht hätten Sie lieber gar nichts auswählen sollen!»
    «Verdammt, Samson, Sie haben das freiwillig gemacht, in voller Kenntnis.» Ray sprach durch die Zähne. Sein kühler Ton überraschte Samson. «Versuchen Sie nicht, es auf mich abzuwälzen, als hätte ich Sie irgendwie im Stich gelassen. Es gibt nichts, was ich Ihnen nicht gesagt hätte, außer wessen Erinnerung Sie bekommen sollten und was es für eine war. Das hätte Bilder in Ihrer Vorstellung heraufbeschworen und die reine Übertragung gestört.»
    «Haben Sie mal daran gedacht, wie es sich anfühlen würde? Einen Albtraum im Kopf zu haben, der jemand anderem gehört? Oder hat Ihre Phantasie da ausgesetzt?»
    «Es war ein Test, kein Kriegseinsatz. Ich habe Ihnen schließlich keine Folter oder Schlachtfelder verpflanzt, oder? Bleiben wir doch auf dem Teppich.» Das Blut tropfte weiter, machte rote Flecken auf Rays Hemd. «Was Sie bekommen haben, ist nur die Erinnerung an einen Test , der vor vierundvierzig Jahren stattgefunden hat. An einen historischen Moment. Gewaltig, ja, aber wir brauchten einen starken Eindruck. Etwas Spezifisches und Intensives, das sich nicht mit irgendwelchen eigenen Erinnerungen vermischt. Als Sie und Donald sich dann in der Wüste verirrt hatten, als ich Sie an jenem Tag am Straßenrand fand, sah ich es auf Ihren Gesichtern, was da schon an Bindung bestand, was Sie miteinander teilten. Die Situation war ideal für die erste Übertragung.»
    Samson starrte ihn schweigend an, abwartend, ob Ray noch etwas sagen würde, irgendetwas, um ihre eigene Bindung zu retten, wegen der er überhaupt erst nach Clearwater gekommen war.
    «Tun Sie nicht so», blaffte Ray ihn an. «Sie waren der perfekte Kandidat, wir wussten es doch beide. Ihre ganze Situation – diese immense Aufnahmefähigkeit für neue Erinnerungen – machte es praktisch unvermeidlich.» Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. «Ich bin enttäuscht, muss ich sagen. Als hätten Sie alles vergessen, was wir diskutiert haben. Mut zum Risiko, die Wissenschaft voranbringen. Auf unbekannten Wegen, die nie ein Mensch gegangen ist, haben wir das nicht gesagt?»
    «Dafür gibt es Gründe.»
    Ray hielt die Hände hoch. «Es gibt auch Gründe dafür, dass wir keine Menschen auf den Mars schicken. Aber eines Tages wird es diese Gründe nicht mehr geben. Verdammt, Sie sind an der vordersten Front der Wissenschaft, Samson. Ich dachte, wir hätten einander verstanden. Etwas Unerhörtes ist vollbracht. Ja, wir haben noch viel vor uns. Aber wir sind weiter, als irgendjemand hier gedacht hätte. Dass so viel von der Erinnerung angekommen ist, das ist einfach gewaltig. Viele hätten sich darum gerissen, an Ihrer Stelle zu sein, in die Geschichte einzugehen. Es ist lächerlich, jetzt so einen Wutanfall hinzulegen.»
    Es wäre besser gewesen, sich die Wut zu bewahren, weiter auf Ray einzudreschen, Stühle umzuwerfen, mit der

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