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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Enthüllungen.
    Aber sein Wille, Luke nicht zu enttäuschen, war nicht der einzige Grund, warum er bereitwillig bei jedem noch so idiotischen Plan, den der Junge ausgeheckt haben mochte, mitmachen wollte. Vielleicht war es auch eine Wirkung des Alkohols. Oder eine kleine Gefühlsduselei, die ihn zu großen Gesten stimulierte. Unabhängig von der Begründung erkannte Samson jedenfalls einen Sinn darin, den Tumor, seinen im Krankenhaus aufbewahrten Tumor, zurückzuverlangen. Luke hatte Recht: das musste sein. Er würde hingehen und sich den Tumor wiederholen, weil er für alles stand, was Samson verloren hatte, weil er ihm gehörte .
    Er würde nicht mehr zulassen, dass einfach Dinge mit ihm geschahen. Er lebte, und zum ersten Mal, seit er aus dem Schlummer seines vergangenen Lebens erwacht war, spürte er das. Er war sich nicht mehr jedes Augenblicks schmerzlich bewusst wie beim Erwachen nach der Operation. Er hatte jetzt eher den Eindruck, dass nur Sterbende, denen die Welt schon verloren war, sie in solch scharfer und formaler Klarheit sahen. Nein, dies war etwas anderes, als wäre ihm an irgendeinem Punkt dieses nächtlichen Saufgelages sein Leben zurückgegeben worden. Ein Aufschub, der sein pochendes, hämmerndes Herz vor glühender Hoffnung zerspringen ließ.
    Es war nach vier Uhr morgens, als sie eines der vor dem Hotel wartenden Taxis bestiegen. Ganz am Rande registrierte Samson, dass Luke betrunkener war, als er gedacht hatte. Der Junge benahm sich ausgelassener, geradezu extrem, seit sie unten waren. Samson unternahm keine wirkliche Anstrengung, ihn zu beruhigen, versuchte nur, seine Hand festzuhalten, als er Dollars von der dicken Rolle in seiner Tasche schälte und die feuchten, zerknitterten Scheine wie wertlose Rupien an vorübergehende Fremde verteilte.
    «Behalt das lieber. Vielleicht brauchen wir es noch», flüsterte Samson.
    «Stimmt», sagte Luke und zog einen Fünfer zurück, den er gerade einer Kellnerin unter den Gürtel gesteckt hatte.
    Das Taxi setzte sie vor der Notaufnahme ab. Ein Mann ging, die Hand gegen die Brust gepresst, durch die automatische Schiebetür, aber sonst deutete nichts auf eine Krise hin. Die Handvoll Leute auf den aneinandergereihten Plastiksitzen starrten so zutiefst gelangweilt auf die installierten Fernseher, dass man meinen mochte, sie warteten darauf, als Stuntmen für die Hinterbliebenen einzutreten. Es war ein merkwürdiger Wechsel vom Casino hierher, und die beiden standen verstört im blendenden Licht der fluoreszierenden Leuchten. Luke rückte sich den Hut zurecht. Langsam dämmerte es Samson, dass er in diese Unfallstation gebracht worden sein musste, nachdem die Polizei ihn in der Wüste aufgelesen hatte. Er fragte sich, ob er es im geschlossenen Raum des Vergessens nicht als Erleichterung empfunden hatte, dass ihm sein Schicksal aus den Händen genommen worden war. Ob er sich nicht recht bereitwillig auf die Pritsche gelegt, die Augen geschlossen und sich aller Ansprüche auf Begründungen begeben hatte, ohne jegliches Verlangen, noch irgendetwas zu verstehen.
    Eine streng aussehende Oberschwester näherte sich mit jener Art Plastikkloben an den Füßen, von denen sich Blut leicht abwaschen lässt. Er überlegte, ob er ihr die Sache mit der Erinnerung erzählen sollte, die ihm ins Gehirn geträufelt worden war wie Bakterien in eine Petrischale.
    «Sind Sie schon aufgenommen?»
    Samson starrte sie an, ohne Reaktion.
    «Hallo? Ich fragte, ob Sie schon aufgenommen sind?», wiederholte sie, jede Silbe einzeln betonend, als spräche sie mit einem Ausländer oder einem Idioten. Im Geiste sah Samson sie Elektroschocks verabreichen.
    «Wir sind hier falsch», sagte er, packte Luke und zog ihn rückwärts durch die automatische Schiebetür.
    Draußen rieb Luke sich den Arm und warf Samson einen vernichtenden Blick zu.
    «An der wären wir nie vorbeigekommen», erklärte Samson.
    Sie schlurften um das Krankenhausgelände herum, bis sie den Haupteingang fanden. Luke hatte sich etwas beruhigt, aber Samson traute der Ruhe nicht; vielleicht war sie nur das Auge des Sturms. Während der Taxifahrt hatte Luke das Blaue vom Himmel geredet, Angriffspläne ausgebreitet, die Samson sogar in seinem noch mächtigen Rausch weit hergeholt, wenn nicht absurd erschienen waren. Dennoch war er sich bewusst, dass der unausgesprochene Pakt, den er fast von Anfang an mit Luke geschlossen hatte, auf einer stillschweigenden Verabredung gegenseitiger Duldung und Nachgiebigkeit beruhte, und so

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