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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Luke war da, es mit ihm durchzustehen, die ganze Geschichte, bis zum Ende. Sein Vater war ein Arschloch, na und? Eines Tages würde der Junge erwachsen werden und das alles hinter sich lassen.
    «Richtig. Und ich erinnere mich an nichts. Und dann steht diese Frau an meinem Bett, eine wunderschöne Frau.» Möge es wie ein Märchen sein, eine dunkle, faszinierende Geschichte, so einfach, dass der Junge sie irgendwann seinen eigenen Kindern erzählen können würde.
    «Ihre Frau.»
    «Meine Frau», sagte Samson und lehnte sich zurück, um fortzufahren.
    «Ihr Leben», fügte Luke hinzu.
    «Meine Frau, mein Leben», sagte Samson großmütig. «Anna.»
    Indem Samson redete und Luke die Dinge klarstellte wie der Meister und sein Schreibgehilfe, breiteten sie die Ereignisse des letzten Jahres aus. Es war das erste Mal, dass Samson die ganze Geschichte erzählte. Lavell, Donald, Lana, Ray, ja sogar Anna – sie alle kannten nur Bruchstücke, und außerdem hatte jeder von ihnen seine Vorurteile. Luke dagegen war ein fairer, unparteiischer Zeuge. Und so, mit dem Vibrato eines Chorsängers, trunken von Whiskey und Wahrheit, wieder und wieder bemüht, auf den Sessel zu steigen, um von der Höhe eines Podests aus zu sprechen, beichtete Samson die ganze Sache. Denn jetzt konnte nichts mehr gegen ihn verwendet werden. Er hatte gelitten, und dafür würde ihm Amnestie gewährt. Luke würde dafür sorgen. Wenn die Zeit gekommen war – wenn Samson das Beweismaterial zusammengetragen und die Spitze des Berges erklommen hatte, um auf die armselige Welt herabzusehen, wenn er eine Weile, den Wind im Rücken, in der gerechten Stille gestanden und langsam den Abstieg begonnen hatte, wenn seine Füße ruhig, verspätet die Erde berührten –, würde der Junge da sein und ihn erwarten. Samson würde vor ihm niederknien, und Luke würde seine Hände auf Samsons Kopf legen und ihn segnen. Und dann wäre Samson endlich frei.
    Als sie mit allem durch waren, war es vier Uhr morgens. Das Zimmer war übersät mit zerknülltem Briefpapier aus dem Hotelbestand und kleinen Schnapsflaschen, die sie in der Minibar gefunden hatten. Einer von Samsons Wildlederschuhen hing an der Leuchte, wo er ihn zur Betonung eines Arguments hingeschleudert hatte. Sie hatten alle Einzelheiten drei oder viermal geprüft. Es hatte Momente der Erschöpfung und viele Tiefpunkte, Löcher des Schweigens gegeben, aber aus diesen war die Sprache umso kräftiger und blühender geströmt. Luke mit seinen ständigen Einwürfen und dem unersättlichen, fast fanatischen Bedürfnis nach Klarheit hatte sich ebenso hineingestürzt wie Samson. «Vollständig ausgelöscht!», hatte er jedes Mal gerufen, wenn sie mit der Geschichte in eine Sackgasse geraten waren.
    Als sie sich schließlich durch die ganze Verwirrung gekämpft hatten, verkündete Luke, er habe einen Plan.
    «Der Tumor», erklärte er.
    Samson begriff, dass dies etwas Entscheidendes bedeuten sollte, aber es war zu knapp, zu allgemein, als dass er gleich kapiert hätte, was der Junge meinte.
    «Weiter.»
    «Das pilo …»
    «Pilozytische Astrozytom.»
    «Entfernt am 14. Mai 2000 in der Universitätsklinik von …» Hier zog Luke die Augenbrauen hoch und spreizte die Hände. «Wo?»
    «Das ist nichts Neues, Las Vegas.»
    «Genau. Las Vegas.» Luke kramte nach seinem Hemd und dem Jackett. «Also los, gehen wir.»
    «Wohin?»
    «In die Klinik!», heulte Luke, frustriert über Samsons Begriffsstutzigkeit.
    «Und was sollen wir da?»
    « Den Tumor wiederholen!»
    Samson war nicht mehr ganz so besinnungslos betrunken wie zuvor, und eine leichte, fast metallische Spur Nüchternheit ließ ihn zögern, bevor er den Mund aufmachte. Aber nach einem Moment kam er zu dem Schluss, dass er keine andere Wahl hatte, als mit Luke zu kooperieren. Zum einen hatte er ihn schon zu tief in den Exzess geführt, um jetzt einen Rückzieher zu machen, bei all der Enttäuschung und den Gefühlen von Verrat, die der Junge dann sicher empfinden würde. Er wollte ihm den wunderbaren, gläsernen Schein seines Glaubens, seiner felsenfesten Überzeugung, irgendwann müsse der unvermeidliche Augenblick des Verstehens kommen, nicht kaputtmachen. In der Blüte seines Lebens mit erhobener Hand zu bekennen, dass man nichts versteht, oder schlimmer noch, dass man versteht und dennoch machtlos bleibt, war zu bitter und trostlos, zu viel, um es dem Jungen zuzumuten und seine Nase auch da noch hineinzutunken. Nicht jetzt, auf dem Höhepunkt ihrer

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