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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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unternahm er nichts, um Lukes Überschwang zu bremsen. Sicher, sie könnten sich als finnische Gastmediziner ausgeben, hatte er bestätigt, oder ein paar Hausangestellte bewusstlos schlagen und ihre Kluft anziehen.
    In der Empfangshalle war eine kleine Ausstellung über Hauttransplantationen. Der Schaukasten zog Luke sofort in den Bann. Samson kamen die Grafiken, Fotos und medizinischen Diagramme vor wie eine grausame Sammlung, um Laien das Fürchten zu lehren, aber Luke war fasziniert. Samson sah sich nach dem Weg zum Labor der pathologischen Abteilung um, während der Junge zurückblieb, das Gesicht gegen den Kasten gepresst, auf dessen Scheibe sich eine feuchte Atemwolke bildete.
    Doch als Samson ein paar Minuten später wiederkam, war Luke verschwunden. Keine Spur von ihm, außer dem schwarzen Filzhut, der auf dem Boden lag. Samson schnappte ihn sich und ging los, den Gang hinunter, in der Annahme, allzu weit könne Luke nicht sein. Da er mit dem Hut nichts anzufangen wusste, setzte er ihn auf. Er war zu klein, und als kein Ziehen und Herunterdrücken half, ließ er ihn einfach hoch auf dem Kopf sitzen, in der linkischen und doch saloppen Art der orthodoxen Juden, die er in frenetischer, hitziger Geschäftigkeit durchs Diamantenviertel im Zentrum von Manhattan hatte schwärmen sehen (sie schienen etwas Größeres darunter zu verbergen – ein Hühnchen , war ihm verrückterweise in den Sinn gekommen). Diese plötzliche Erinnerung überraschte ihn, und während er auf der Suche nach Luke durch den Flur eilte, empfand er einen Stich Sehnsucht nach dem wechselhaften Licht von New York, dem hellen Glanz und plötzlichen Schatten. Aber er verscheuchte den Gedanken fast so schnell, wie er gekommen war. Seit der Abreise von Clearwater hatte er verzweifelt versucht, alle nicht direkt auf den gegenwärtigen Moment bezogenen Gedanken zu verdrängen, vor lauter Angst, die schnell arbeitenden Verknüpfungen des Gedächtnisses würden ihn irgendwann kopfüber in die eine Erinnerung krachen lassen, die er um jeden Preis vermeiden wollte: tausend Männer auf dem Wüstenboden, ins Licht der Morgendämmerung blinzelnd.
    Er hastete den Flur entlang, den Hut auf dem Kopf, sich um Hindernisse duckend, fahrbare Liegen und den einzelnen Rollstuhlfahrer in Krankentracht, einem weiten Baumwollmantel, formlos genug, um jeder vorstellbaren menschlichen Physiognomie zu passen. Bald mündete der lange Korridor in andere lange, ebenso sterile Korridore, und Samson verlor die Orientierung. Der säuerliche chemische, so extrem unmenschliche Geruch und das schlechte Licht, das alles in einen einheitlichen, krankhaften Ton tauchte, reichten aus, um eine gespannte, nervtötende Atmosphäre zu verbreiten; es bedurfte kaum des zurückgebliebenen Kindes, das plötzlich aus einem anderen Flügel kam und den Kopf in einem ewigen Bemühen, die Augen geradeaus zu richten, mechanisch hin und her drehte; oder des geifernden alten Mannes mit einem Netz blauer Krampfadern an den Beinen, der immer noch irgendwie hoffnungsvoll aussah, als erwartete ihn alles andere, nur kein elendes Schicksal. Diese Begegnungen, mit den Todkranken in eine Waagschale geworfen, ließen den ersten Schrecken ins Albtraumhafte anwachsen. Sie setzten jeglichem Glück der Trunkenheit, das Samson sich gegönnt hatte, einen kräftigen Dämpfer auf.
    Luke war nirgendwo zu finden, aber Samson beschloss, den Plan trotzdem weiter zu verfolgen – Plan im lockersten Sinne: nämlich irgendwie in den Besitz des Tumors zu gelangen, da sie sich noch auf keine Strategie geeinigt hatten. Es bestand eine wenngleich geringe Chance, dass Luke jetzt auf eigene Faust zur Pathologie im sechsten Stock unterwegs war. Oder dass seine leicht entzündliche Begeisterung etwas Neues entdeckt hatte, woran sie sich festmachen konnte, etwas, das seine Aufmerksamkeit so lange fesseln würde, bis Samson das Vorhaben allein ausgeführt hatte.
    Er fand den Fahrstuhl und stieg ein, einen großräumigen, mit Metall ausgekleideten Lastenaufzug. Als er die Hände in die Jackentaschen steckte, stieß er auf das letzte Fläschchen der geplünderten Minibar, einen Schuss Gin zum Auffrischen. Er schüttete ihn die Kehle hinunter. In der zweiten Etage schob ein Krankenpfleger eine Patientin auf einer fahrbaren Liege herein, teilnahmslos wie die chinesischen Händler mit ihren Karren, die Samson im National Geographic gesehen hatte. Die Patientin hing an einem Tropf und sah schwer krank aus. Samson wandte die Augen von ihrem

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