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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Gesicht ab, erleichtert, als im sechsten Stock die Tür aufging.
    Er strebte eilig durch den Gang zu dem ausgeschilderten Labor. Als er eintrat, saß eine junge Schwester hinter dem Tisch, eine bleichgesichtige Frau, die aussah, als könnte sie selbst eine Transfusion gebrauchen. Er begann ein zwangloses Gespräch, als wäre sie eine Bardame und keine Krankenhausangestellte mit direktem Draht zum Sicherheitsdienst. Während sie sprachen, überkam ihn ein Gefühl ruhigen Selbstvertrauens, eine Gelassenheit, die er bewahrte, als er die Finger um ihr Handgelenk schloss und ihr erklärte, er brauche Zutritt zum Labor. Irgendwo in ihm war das neue Bewusstsein seiner Fähigkeit, heftigen Zorn zu entladen. Die Schwester wich zurück und blickte sich hilfesuchend um, aber von denen, die sonst noch im Dienst sein mochten, war niemand zu sehen. Er sagte nichts von einem finnischen Gastmediziner, ja er gab überhaupt keine Erklärung ab, sondern schlug und parierte sich, nach Alkohol stinkend, so übermächtig durch den Wortwechsel, dass die erschrockene Frau, offensichtlich überzeugt, sie habe einen Geisteskranken vor sich, aufgab und ihn durchließ.
    Es kam ihm vor wie die gut aufgebaute Szenerie eines schrecklichen, blutigen Unfalls. Die Ablagen waren mit bräunlichen Flecken bespritzt, und überall standen nummerierte Gläser und Behältnisse, die rot-gelbe Klumpen enthielten: menschliche Klumpen, fettige und blutige Stückchen Fleisch. Atypische Wucherungen. Schwerer Formalingeruch hing in der Luft, und man hörte ein leises Summen, wie von einer Waschmaschine. Samson drehte sich der Magen um, und einen Moment lang geriet seine Entschlossenheit ins Wanken.
    Die Schwester folgte ihm hinein. Sie schien sein Zögern zu spüren und nutzte es zu einem Versuch, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie werde ihn kurz durchführen, sagte sie, aber dann müsse er schnell wieder gehen. Er beobachtete, wie sie sich ein Paar Latexhandschuhe schnappte und in einem Gefäß mit farbiger Flüssigkeit herumrührte, die Augen oben an die Decke gerichtet, bis sie ein gummiartiges, unförmiges Ding herausfischte, eine Brust, wie sie behauptete. Großzeug, nannte sie es, der Fachausdruck für alles, was noch nicht gespannt und geviertelt, eingelegt, beträufelt und in der Dicke einer einzigen Zelle auf einem Objektträger fixiert worden war. Samsons Übelkeit wich einer Faszination, die ihn völlig in Anspruch nahm. Berauscht, wie in einem Traum wollte er die anderen Präparate sehen. Die Schwester druckste, aber als er ein paar drohende Worte ausstieß, lief sie wieder zu den Behältnissen und hielt mit der Pinzette einen Gallenstein in die Luft. Stockend beschrieb sie die Vorgänge, wie das Großzeug auf einen kaum sichtbaren Schatten seiner selbst reduziert und gleich einem Fingerabdruck auf einem Objektträger fixiert wurde, ein kalligraphischer Fleck, der unter einer starken Linse Anzeichen von Krebs erkennbar machen sollte. Sie öffnete die Schranktüren, hinter denen sich, Reihe um Reihe, lauter kleine Schubkästen voller nummerierter Objektträger verbargen, ein endloser Wechsel menschlicher Schicksalsschläge und Erlösungen: bösartig, gutartig, bösartig, gutartig.
    «Schwester», begann er, indem er einen flehenden Ton anschlug.
    Sie drehte sich zu ihm um, die bleiche Frau im gestärkten weißen Kittel, und sagte: «Ich bin keine Schwester.»
    Er sah sie an.
    «Was sind Sie dann?»
    «Laborassistentin», sagte sie, und im gleichen Moment beschloss er, jede Höflichkeit beiseite zu lassen und direkt zur Sache zu kommen. In lautem Befehlston verlangte er das Großzeug zurück, das ihm vor einem Jahr aus dem Gehirn geschnitten worden war.
    Sie wich gegen die Ablage zurück. «So lange heben wir das nicht auf», flüsterte sie.
    «Was soll das heißen, Sie heben es nicht auf? Warum heben Sie es nicht auf?»
    «Das Gewebe zerfällt. Nach ein paar Wochen werfen wir es weg. Wir legen ein kleines Stück in Paraffin ein. Und die Objektträger, die bewahren wir auf. Die behalten wir im Grunde für immer hier.»
    Samson kämpfte mit der Vorstellung, sein Tumor sei wie der Rest, Knochensplitter und Gemetzel, gebrauchte Spritzen und dreckige Verbände, im blutigen Krankenhausmüll gelandet. In einem nüchternen Winkel seiner selbst hatte er die ganze Zeit gewusst, dass es so sein würde. Aber, dämmerte ihm jetzt, da waren ja noch die Objektträger, dann würde er sich eben damit begnügen müssen. Die Laborassistentin begann sich

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