Kommt Schnee
abgeflogen, zurück nach Portugal. Das durfte er tun. Niemand konnte ihn ohne begründeten Verdacht – Verdacht für was? – festhalten. Diese Spur war tot.
Baumer war nicht sonderlich erstaunt. Irgendwie hatte er so etwas erwartet. Gab es irgendetwas anderes zu tun, irgendeinem anderen Verdacht nachzugehen. Ja, das gab es.
Baumer blickte hoch zu der barocken Uhr, die am Wohnhaus an der Schifflände die Zeit anzeigte. Bereits 17 Uhr 50. Wenn er sich beeilte, würde er den »Professor« noch erreichen. Der Professor war Dr. Regazzoni, ein Gerichtsmediziner in Basel. Auf seinem Schragen hatten die Leichen des Bistrofalls gelegen. Sie hatten ihm nicht widersprochen, als er sie untersuchte.
*
Baumer traf nach achtzehn Uhr im Gerichtsmedizinischen Institut Basel ein. Nur mit Mühe konnte er die Sekretärin von Dr. Regazzoni, die erstaunlicherweise noch das Vorzimmer hütete, davon überzeugen, ihn durchzulassen.
»Der Herr Doktor wünscht keine Störung«, hatte die Sekretärin gesagt, die elegant gekleidet war und prächtigen Schmuck trug.
»Es ist wichtig.«
»Das sagen alle. Aber der Herr Doktor wünscht keine Störung«, wiederholte die Frau, die ihren Angebeteten während der Arbeit im Institut selbst nach dreiundzwanzig Jahren Beziehung immer noch mit Herr Doktor ansprach.
»Melden Sie mich an.«
»Nein«, sagte die heimliche Geliebte von Regazzoni, die er am Morgen jeweils drei Häuserblocks vor dem Institut aus dem Wagen schmiss, um den Schein nach außen hin zu wahren. Sie musste dann ein paar Minuten nach ihm zu Fuß ins Institut kommen. Am Abend dann das Gleiche in umgekehrter Reihenfolge. Sie ging zu Fuß davon. Er folgte ihr nach ein paar Minuten mit dem Wagen, las sie drei Häuserblocks weiter auf. Dies ging seit Jahren so, und beide waren überzeugt, dass niemand ihre heimliche Beziehung entdeckt hatte. Natürlich wussten alle davon.
Baumer ließ die Sekretärin, die für ihr Gehalt einen deutlich zu teuren Brillantring trug, schimpfend zurück und trat ins Büro des Doktors. Der las in einem wissenschaftlichen Artikel.
»Ich sagte doch, dass ich nicht gestört … Ah, Sie sind es, Herr Baumer.«
»Ich muss Sie sprechen.«
»Alle wollen mich immer sprechen. Und immer dann, wenn ich endlich mal eine halbe Stunde Zeit hätte, die neueste Literatur zu lesen.«
Baumer sagte nichts, während der Doktor tatsächlich seine Fotokopien – einige Stellen waren mit gelbem Leuchtstift markiert – aus der Hand legte und seine hochgelegten Füße vom Tisch nahm.
Doktor Regazzoni trug einen Anzug mit Krawatte. Baumer konnte sich nicht erinnern, ihn je in anderer Kleidung getroffen zu haben. Das Hemd gefiel Baumer. Fein gearbeitete weiße Baumwolle. Kein Designerstück, aber immerhin ein Markenhemd. Die Krawatte hingegen zu langweilig. Eintöniges Dunkelblau ohne Textur und Musterung. Immerhin passte sie zum schieferfarbenen Anzug. Der Gerichtsmediziner verräumte eine Zeitung, die er auf den Tisch gelegt hatte, damit seine Bally-Halbschuhe das teure Tischblatt nicht zerkratzten. Baumer sah ihm nach, dass er ab und an seine Füße hochlagern wollte, schließlich stand er oft stundenlang über kalte Leichen gebeugt. Noch ein paar Jahre, dann würde er zusammen mit ein paar Globus-Verkäuferinnen im Wartesaal eines Venendoktors sitzen und sich anstellen, um einen freien Termin für die notwendig gewordene Operation seiner Krampfadern zu bekommen.
Der Doktor setzte sich aufrecht in den Sessel. Die Arme hatte er auf dem Tisch, die Hände gefaltet. »Also?«, fragte der Doktor, den alle Professor nannten, auch wenn er diesen Titel gar nicht tragen durfte. Irgendwann war es ihm aber zu mühsam geworden, immer darauf hinzuweisen, dass er kein Professor sei.
»Sie haben die Toten der zwei Bistromorde untersucht?«
»Morde?«, horchte der Doktor auf und zog eine Augenbraue hoch.
Baumer fuhr fort, so, als ob er sich eben nur versprochen hätte. »Diese zwei Toten. Was können Sie mir über sie sagen?«
»Das können Sie in meinem Bericht lesen. Der wird morgen ins Reine getippt.« Regazzoni, der nur wenig älter als Baumer war und dessen dunkle Haare seine südliche Herkunft verrieten, drehte sich im Stuhl. Er wollte seine Photokopien der neuesten wissenschaftlichen Literatur greifen.
»Ich frage Sie jetzt.«
»Ah. Sie fragen mich jetzt.«
»Ja.«
Der Mediziner drehte seinen Stuhl zurück. »Nun gut. Baumer. Weil Sie es sind. Ich habe großen Respekt vor Ihnen. Sie sind intelligent. Das findet man nicht
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