Kommt Schnee
spurten. Die edlen Herren luden sich schon damals nicht voll Schuld, wenn sie aufräumten. Sie ließen ihren Opfern immer eine echte Chance. Wenn sich eine Frau unten am St. Johann oder am Matthäusquartier noch ans Ufer hätte retten können, wäre sie begnadigt worden.
Dies geschah nie.
»Aber die Fähre liebst du doch«, sagte Maja plötzlich zum verbitterten Andi.
»Ja, die Fähre liebe ich«, antwortete Baumer.
Maja schaute ihn an, treuherzig, mit großer Vorfreude. Er umarmte ihren zierlichen Körper. Ihre Brüste spürte er nicht, denn sie hielt die Arme überkreuzt vor ihrer Brust, die Hände zu kleinen Fäusten geballt. Er drückte sie.
»Encore, encore!«, sagte Maja, und Baumer drückte sie noch fester und sah in ihr Gesicht, wie sie die Augen geschlossen hielt, wie ihr Mund aber lachte und sie glücklich war.
»Encore, encore!«, hauchte sie, und Baumer drückte fester und fester, bis er selbst fast keine Luft mehr bekam vor Anstrengung, aber es war ihr immer noch nicht genug.
Als er Maja schließlich losließ, fiel sie wie aus einem Traum. Sie riss die Augen auf, sah ihn, zog sich wie ein Kind hoch zu ihm, fiel ihm um den Hals. »Das war schön«, sagte sie, »so schön.«
Sie küsste ihn ausgiebig, dann stieß sie sich mit den Händen von seinen Schultern ab. Weil er sie um die Hüfte hielt, bog sie sich wie ein junger Baum im Wind zurück. »Hey, weißt du was? Wir gehen heute ins Picobello. Das liebst du doch, oder?«
Ja, Baumer liebte das Picobello. Diese kleine Pizzeria, fast direkt neben dem Hotel Drei Könige. Dort wo man auf harten geflochtenen Korbstühlen saß. Die Vorderkante der Sitzfläche drückte Baumer immer brutal in seine großen Oberschenkel. Aber das machte ihm nichts aus. Man hätte ihm glühende Kohlen auf seinen Stuhl legen können. Er wäre mit Freuden draufgesessen, nur um mit Maja zu sein und ihr zuzuschauen, wie sie sich am reichhaltigen Salatbuffet bediente. Wie sie dann ihren Kopf bewegte und sich mit der Hand durch die langen braunen Haare fuhr. Wie grazil sie sich bewegte. Ein hohes Gras, das sich im milden Herbstwind bewegt. Maja hatte den schönsten Körper, den er je gesehen hatte. Von Göttern gemacht, nur für ihn.
Für ihn? Bei dieser Erinnerung durchfuhr ihn ein Schlag. Seine Schritte wurden schwach, beinahe knickte er ein. Er fühlte einen stechenden Schmerz in seine Unterarme fahren. Es war ihm, als hätte jemand seine beiden Hände abgeschlagen, wie man einem Dieb im fernen Arabien die Hände abschlägt. Unbewusst hob er seine Arme, als wären es nur noch blutende Stümpfe.
Baumer schleppte sich nach Hause. Er fühlte sich elend. Die Erinnerung an Maja marterte ihn. Zu Hause angekommen, öffnete er mechanisch den Briefkasten, überflog die Post uninteressiert und wollte die Treppe hinauf, als gerade die Schwester von Heberlein herunterkam. Wahrscheinlich hatte sie nach Heberlein geschaut.
»Grüezi, Herr Baumer.«
Baumer antwortete mit einem Heben des Kopfes. Seine Augen mussten große Traurigkeit ausgedrückt haben.
»Oh, geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen so bleich aus.«
»Schon gut«, versuchte Baumer sie zu beruhigen.
Abzuwimmeln.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus? Sind Sie erkältet?«
Baumer hörte kaum hin, antwortete wie ein Roboter. »Nein. Schon in Ordnung.«
»Passen Sie nur gut auf sich auf im Winter. Da holt man sich schnell was, wenn man nicht auf sich acht gibt.« Dabei zog sie sich selbst den Kragen an ihrem Wintermantel enger zu.
Baumer schaute auf den Boden, dachte an nichts. Nicht an Maja. Nicht an ihren Freund, der nun glücklich mit Maja war. Heute. Jetzt. Mit seiner Maja. Immer.
Heberleins Schwester sprach zügig weiter. »Wissen Sie, mein Bruder hat sich auch erkältet. Der Dummkopf« – nur sie allein durfte ihren Bruder so nennen – »hat wieder hier draußen stundenlang auf mich gewartet. Ich habe ihn vor einer Stunde aufgelesen. Völlig verfroren.«
Baumer hätte sagen können: »Das tut mir leid.« Er sagte nichts.
»Er war vor Kälte schon fast verwirrt. Hat dauernd nur gestammelt: Kommt kein Schnee, kommt kein Schnee. Ich habe ihm eben heißen Tee gemacht. Bin extra nochmals in die Apotheke, um Erkältungstee zu holen. Der ist besser als der vom Konsum.«
»Ja«, bestätigte Baumer und wusste doch nicht, was er bestätigte.
»Wenn Sie möchten, mache ich Ihnen auch gleich eine Kanne voll. Beutel sind noch genug da. Möchten Sie? Ich kann Ihnen den Tee bringen.« Die Frau weitete ihre Augen, lächelte.
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