Kommt Schnee
Adieu. Sorry für die Störung. Ciao. Tür zu.
Aber Regazzoni sagte nichts dergleichen, sondern kratzte sich an der Schläfe seiner immer kurz geschnittenen Haare. »Es gibt noch ein Problem, das ich gern lösen möchte. Aber ich komm einfach nicht drauf. Kürzlich habe ich eine Drogentote untersucht. Armes Ding. Starb an einer Überdosis. Das verwirrte mich ein bisschen.«
»Was verwirrte Sie?«, fragte Baumer.
»Die Werte stimmten nicht.«
»Die Werte stimmten nicht?«
»Na ja. Sie hatte eine Überdosis geschluckt. Wissen Sie, das geschieht leider häufig. Aber hier ...«
Baumer hörte zu, ohne zu unterbrechen. Dann fuhr der Arzt fort.
»Ich maß bei dem Mädchen eine zwanzigfache Dosis dessen, was man normalerweise misst.«
Baumer schwieg und ließ Regazzoni reden, der sich noch intensiver am Kopf zu kratzen begann, seine zweite Hand stützte sich derweil in die wenigen, aber hartnäckig präsenten Speckröllchen an seiner Hüfte.
»Die Werte sind einfach viel zu hoch.«
»Vielleicht ist Ihre Maschine kaputt«, sagte Baumer.
»Vielleicht ist die Erde eine Scheibe? Was, Herr Baumer?«, frotzelte der Mediziner leicht verärgert. »Nein, nein, Baumi, meine Maschine stimmt schon. Die habe ich persönlich geeicht. Aber dann ...«. Der »Professor« hielt inne, griff sich ans Kinn und schüttelte ungläubig den Kopf. »Gestern kam schon wieder einer auf den Tisch. Und wissen Sie was, zum Kuckuck. Schon wieder viel zu hohe Werte.«
*
Es war bereits nach sieben, als Baumer sich von Dr. Regazzoni verabschiedete. Er ging an der Sekretärin vorbei, die immer noch da war und ihn ostentativ ignorierte. Das fiel ihr leicht, denn sie schaute penetrant in einen Schminkspiegel, strich sich ihre Lippen und machte sich für ihren Geliebten bereit.
Als Baumer vor dem Institut in der Pestalozzistraße 22 auf die Straße trat, war es dunkel. Ein Fahrradfahrer fuhr vorbei, dessen Dynamo wie ein Traktor ratterte. Auch ein Autofahrer fuhr nach Hause. Nur knapp geschwinder als die erlaubten 30 Stundenkilometer. Dann kam ein frisiertes 50ccm-Moped mit einem etwa 17-Jährigen. Mit bestialischem Lärm raste der Jugendliche an Baumer vorbei. Seine Geschwindigkeit lag deutlich zu hoch. Hinten am Moped des Jungen sah Baumer ein gelbes Nummernschild. Die Ziffern verrieten, dass das Moped in Frankreich registriert war. Als der Junge schon um die Ecke gebogen war und die Metzerstraße hinauf Richtung Flughafen Mulhouse raste, stiegen Baumer die Abgase des Motorrads in die Nase. Sie schmeckten nach Flugbenzin.
Baumer entschied, dass es genug sei für heute, und ging nach Hause. Den Weg nahm er zu Fuß in Angriff. Er würde etwa 30 Minuten brauchen, bis er in seiner Höhle im Gundeli wäre, dort hinter den Gleisen. Bis dahin könnte er den Fall – war es ein Fall? – in Ruhe durchdenken.
Als er bei sich zu Hause ankam, hatte er nochmals überschlagen, was er gehört hatte. Tonis Freundin, dessen große Liebe, starb an einer Überdosis. Das musste ganz einfach die Drogentote sein, von der Dr. Regazzoni gesprochen hatte. Angesichts eines solchen Todes kann einer schon mal spontan durchdrehen. Da hat fast jeder Verständnis für Tonis Amoklauf. Aber Baumer störte sich an dem Ablauf dieses Films. Denn Regazzoni hatte von zwei Toten gesprochen, beide an einer Überdosis gestorben. Der zweite war Mirko Stamm. Ein begnadeter Designer. Auch er war ein Opfer. Auch er hatte das Recht, dass man herausfand, was hier schieflief.
Diese ganze Geschichte, wie Windler sie erzählen wollte, war so falsch wie die Werbefilme von Basel Tourismus, die man in fremden Städten zeigt. Man sieht zwar Basel. Das Münster, die hölzernen Rheinfähren, der Tinguelybrunnen, das Basler Tanzballett, die Altstadt, die Mittlere Brücke. Aber diese Postkartenidylle war nicht Baumers Basel. Er ging nie ins Theater. Und beim Tinguelybrunnen war er einmal auf dem Eis ausgerutscht, das sich gebildet hatte, weil das Wasser vom Brunnen über die Ränder verweht worden und dort zu Klareis gefroren war. Selbst die mittlere Brücke war für ihn nicht der idyllische älteste Rheinübergang zwischen Bodensee und Nordsee, wie er den Touristen präsentiert wurde.
Er wusste, dass im Mittelalter die alten Herren von Basel dort Ehebrecherinnen die Hände und Füße zusammenbanden, sie mit Gewichten versahen und die Frauen dann beim Käppelijoch, der kleinen Kapelle in der Mitte der Brücke, in den Rhein stießen. So verfuhr man vor Jahrhunderten mit den Frauen, die nicht
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