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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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des Österreichers konnte er verzichten, er wußte, was der verbrochen hatte, mehr noch: Nur Sarani konnte die Schwere der Untatermessen. Die kleinen, bösen, persönlichen Motive des Täters waren diesem selbst bekannt. Sarani aber waren auch die großen, die überpersönlichen Motive klar: Der Haß , die Mordlust am Übernächsten, die sich hinter der Liebe am Nächsten versteckte – und Sarani war für den Österreicher ein Übernächster –, die Herrschsucht , die Verachtung, die das Opfer vor der eigenen Haustür noch leben ließ, das Opfer auf dem nächsten Kontinent jedoch nicht. Alles Motive, von denen der Täter zwar etwas ahnte, aber nichts wußte, und die sich auch gegen dessen Willen durchsetzten. Europas herablassendes Gebaren gegenüber den Ländern des Südens hatte der Österreicher nach Meinung Saranis sich längst zu eigen gemacht, nun richteten seine Arroganz und seine Verachtung sich auch gegen ihn, Sarani.
    Sollte gegen jede Wahrscheinlichkeit der Österreicher mit der Maschine aus New York landen, werde der, dachte Sarani, zuerst die Paßkontrolle absolvieren, ein auch dem Einheimischen unergründliches Ritual, in dem die Grenzbeamten kaum eine Rolle spielten, denn die Pässe – er dachte daran mit nachsichtigem Kopfschütteln, wobei ein wenig Leben in die steinerne Gestalt kam – wurden ihnen von unsichtbaren Kräften aus der Hand gesogen, verschwanden in einem Kiosk, tauchten in einem anderen wieder auf, versehen mit einem Stempel, an dem die Beamten erkennen konnten, ob der Passagier für die Einreise qualifiziert war.
    Dieserart durchleuchtet, werde der Österreicher sein Gepäck suchen, zum Ausgang eilen und dabei an dieser Betonbank vorbei müssen. Wie, fragte Sarani sich, würden sie einander begegnen? Er fragte sich das so teilnahmslos, daß er staunen mußte. Die große Freundschaft, diesein Leben, seine Arbeit, ja sein Lebenswerk geleitet hatte, war verbrannt zu einer Handvoll Asche. Und das Lebenswerk – kaputt.
    Die zwei Wörter Lebenswerk und kaputt schienen ein Wesen gezeugt zu haben: einen Kobold, der hinter jeder Ecke hervorlugte und Sarani die feuerrote Zunge entgegenrollte, auch hier in der Ankunftshalle: Hinter jedem Koffer, den ein Reisender abstellte, jedem Pfeiler, der die Decke der Halle stützte, der Kobold, der Sarani seit Wochen neckte, der sich in diesem Augenblick hinter einem Stützpfeiler verbarg und nur seinen gräßlichen Schädel, gleichergestalt dem Schädel des Österreichers, für einen Augenblick sehen ließ, lange genug, um in triumphalem Hohn ihm entgegenzuzischen: Lebenswerk kaputt.
    Als der Kobold sich hinter, nein, in dem nächsten Gepäckstück versteckte – die Koffer, dachte Sarani, würden von Jahr zu Jahr größer, die Reisenden immer kleiner – und dieser Koffer auf vier Rädern an ihm vorbeirollte, ohne daß jemand zu sehen war, der ihn schob, wußte Sarani, daß es sich um ein selbstfahrendes Gepäckstück handelte, das sowohl den Reisenden als auch den Kobold in sich barg. Hoffentlich, dachte er, verziehe sich der Spuk, und leise sagte er zu sich, der erste Gedanke sei immer der beste. Sein erster Gedanke, als er sein Lebenswerk zerstört glaubte, war gewesen, den Österreicher zu erschießen. Der aber hielt sich in New York auf. Dem ersten Gedanken waren weitere gefolgt und hatten den ersten überlagert, bis er völlig verdeckt war. Schade, dachte Sarani, ohne sich klar zu sein, was er tatsächlich bedauerte, den Freund nicht getötet – oder die Absicht zu töten gehabt zu haben.
    Er wischte die Tränen aus dem Gesicht und bildete sichein, es wären Schweißtropfen. Das Lebenswerk, die Akademie, dachte er, vernichtet von einem österreichischen Schuft. Akademie, ein kleineres Wort hatten die beiden Männer für den großen Plan nicht gebrauchen wollen. In diesem Herbst sollte die Akademie Wirklichkeit werden, die Vorbereitungen waren getroffen, die Mittel standen bereit, Sarani sah sie ungeduldig scharrend auf ihren Einsatz warten, doch anders als er wußten die Mittel nicht, daß das Warten vergeblich war.
    Die Akademie, dessen war er sich gewiß, hätte ihresgleichen auf der Welt nicht gehabt, sie wäre nicht nur Forschungsstätte gewesen, sondern auch Labor, eine gesellschaftliche Werkstatt, in der politische und wirtschaftliche Modelle im Kleinen erprobt werden sollten, damit sie sich auch im Größeren bewähren konnten, ohne daß es wie bisher in der Geschichte, wenn Neues versucht wurde, Opfer, mitunter Millionen Opfer gab und

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