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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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hörte er zu, wenn, zum Glück selten, die Rede der Eltern auf Verwandte kam. Die Familie geschichte bestand für ihn aus den beiden Großmüttern, die er liebte. Doch schon bei den Großvätern endete diese Geschichte. Sie wurden nie erwähnt, und wer deren Väter waren, wußte man so wenig, wie man Kenntnis hatte über die Mütter der Großmütter. Die Großväter verschwanden aus der Geschichte, als diese sich entschloß, Weltgeschichte zu werden, so daß, der Erste Weltkrieg war noch kein Jahr alt, die beiden bereits gefallen waren. Davor hatten sie sich wie die Großmütter als vazierende Taglöhner verdungen, die sich dort aufhielten, wo es Arbeit gab.
    Heinrich hatte es als bedrohlich empfunden, daß Zacharias der Mutter erzählte, er wolle in Graz Maschinenbau studieren. Und tatsächlich versuchte sie, Zachariaszum Komplizen zu machen. Maschinenbau, dieses Wort elektrisierte sie. Sie wollte Heinrich in eine ähnliche Studienrichtung drängen. Sie, die nur sechs Jahre in eine Volksschule gegangen war und danach Hilfsarbeiterin in der Textilfabrik Broch im niederösterreichischen Teesdorf wurde – der Schriftsteller Broch war Sohn des Fabrikanten –, tat so, als wäre es ihr Werk, daß Heinrich in der Volksschule zu den Klassenbesten zählte, in der Musikschule ein talentierter Geiger war, und als ginge es auf sie zurück, daß er im Gymnasium immer noch passable Noten hatte.
    Sie dürfte früh bemerkt haben, daß man, wurde Heinrich mit sanftem Druck zur Arbeit angehalten, einiges aus ihm herauslocken konnte, und sie hatten beide Freude an dieser Kooperation, die Mutter, die mit einem Sohn als gutem Schüler in der Kleinstadt mehr Geltung hatte, und Heinrich, weil er das Leben als guter Schüler für angenehmer hielt, zumal die schlechten Schüler von den Lehrern fortwährend drangsaliert wurden.
    Freudensprung wußte noch, daß seine Mutter zu Zacharias gesagt hatte, sich mit Maschinenbau zu befassen sei lobenswert; Heinrich aber werde Montanistik studieren, in Leoben. Heinrich wußte aber bis auf diesen Tag nicht, warum er nicht einmal versucht hatte, der Mutter ins Wort zu fallen. Er hatte nur den Kopf geschüttelt über so viel Sturheit. Die Frau eines Arbeiters, noch dazu eines, der keinen Ehrgeiz hatte aufzusteigen, weder in der Fabrik noch in der sozialistischen Partei – die er, ein Skandal in Kapfenberg, sogar verließ, weil sie seiner Ansicht nach nicht mehr sozialistisch war –, sie wolle unbedingt einmal, Gipfel des Glücks, Mutter eines Diplomingenieurs sein.
    Die Zuneigung zu ihr, erinnerte Freudensprung sich, war im Lauf der Zeit der Gleichgültigkeit gewichen. Er hielt an seinem Entschluß fest, der Mutter den Wunsch nicht zu erfüllen, schließlich wollte er etwas anderes. Sie hatte keine Chance, doch um so unerbittlicher wurde ihr Begehren. Das änderte sich nicht bis zu ihrem Tod. Sie wurde einundneunzig.
    Um der Mutter die Möglichkeit zu einem Gespräch über seine berufliche Zukunft zu nehmen, fragte er Zacharias, ob er Beethoven kenne. Nur die Klaviersonaten, war die Antwort. – Warum nur die? – Sein Onkel habe hin und wieder eine gespielt, mit der Zeit habe Zacharias sie alle gekannt. Manchmal habe der Onkel nur für ihn gespielt. Er habe in Wien Klavier studiert, sei aber nicht daran interessiert gewesen, Musiker zu werden. Er spiele Beethoven, habe der Onkel öfters gesagt, um Schubert zu verstehen. Das sei zwar niederträchtig, Beethovens Klaviersonaten seien schließlich herrliche Musik, und doch, wenn er sie spiele, frage er sich unweigerlich, ob vielleicht Beethoven ihm helfen könne, das Rätsel Schubert zu lösen.
    Freudensprung erinnerte sich, aufgeregt geantwortet zu haben, wenn er Schubert spiele, sterbe er vor Langeweile. Zacharias hatte ihn erstaunt angeschaut. – Ob er Klavier spiele. – Geige, antwortete er. Bei den Violinsonaten, fuhr er fort, dürfte Schubert die Violine vergessen haben. Endlos brilliere das Klavier, man sehe das in den Noten, selten tauche die Geige auf. Heinrich aber höre das Klavier nicht, denn es gebe niemanden, mit dem er regelmäßig zusammenspielen könne, kein Bursch, kein Mädchen habe es in Kapfenberg auf dem Klavier so weit gebracht wie sie, die Geiger, die seit mehr als zehn Jahren aufdiesem Instrument unterrichtet würden. Nur wenn er öffentlich vorspiele, werde vorher zwei-, dreimal mit einer Klavierlehrerin der Musikschule geprobt. Dann erst verstehe er die Komposition, höre, daß das Wenige, das die Geige zu sagen habe, sehr

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