Konfessor - 17
gewesen.«
»Wann hat alles angefangen?«, wollte Nicci dann wissen. Anns Blick suchte vergangene Erinnerungen. »Wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten. Ich war einfach zu töricht, zu sehr mit meiner Rolle als Prälatin beschäftigt, um zu erkennen, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Vielleicht dachte ich auch, zuallererst meine Pflicht tun zu müssen. Aber das ist nichts weiter als eine Ausrede für meine Torheit.« Das unumwundene Geständnis dieser Frau verblüffte Nicci so sehr, dass ein amüsierter Ausdruck über Anns Gesicht ging, als diese ihre schockierte Miene bemerkte. »Erschreckt es Euch, festzustellen, dass ich auch nur ein Mensch bin?«
Nicci lächelte. »So formuliert klingt es nicht gerade schmeichelhaft, aber im Kern trifft es vermutlich zu.«
Sie bogen in eine lange Flucht von Stufen mit Absätzen in gleichmäßigen Abständen ein, die im quadratischen Treppenhaus durch den Palast nach unten führten, und deren Handlauf aus gusseisernen Ranken von meisterlich gearbeiteten und mit Blättern versehenen Zweigen gehalten wurde.
»Nun ja«, seufzte Ann. »Vermutlich war auch ich leicht schockiert, als ich diese Entdeckung machte. Gleichzeitig erfüllte sie mich mit Traurigkeit, zumindest anfangs.«
»Traurigkeit?« Nicci runzelte die Stirn. »Warum das?«
»Weil ich mir eingestehen musste, den größten Teil meines Lebens fortgeworfen zu haben. Ich wurde vom Schöpfer mit einem sehr langen Leben gesegnet, und doch ist mir erst jetzt, da ich mich seinem Ende nähere, klar geworden, dass ich es nur zu einem sehr geringen Teil wirklich gelebt habe.« Als sie den Absatz erreichten, fragte sie Nicci:
»Verspürt Ihr keine Reue, wenn Ihr seht, welch großen Teil Eures Lebens Ihr vergeudet habt, ohne jemals zu erkennen, was wirklich wichtig war?« Nicci unterdrückte einen Stich des Bedauerns, als sie den Rand erreichten und die nächste Treppenflucht hinabzusteigen begannen. »Das verbindet uns beide.«
Schweigend lauschten sie dem leisen Scharren ihrer Schritte, während sie die restlichen Stufen hinabstiegen. Endlich unten angekommen, nahmen sie statt einem der seitlich abzweigenden Durchgänge einen breiten, geradeaus führenden Flur, in dem der würzige Geruch der in gleichmäßigen Abständen angebrachten Öllampen hing. Die Wände zu beiden Seiten wiesen eine kassettierte Kirschholzvertäfelung auf, die wiederum in immer gleichen Abständen von strohfarbenen, mittels goldener, mit golden-schwarzen Troddeln an den Enden versehener Bordüren gerafften Vorhängen unterteilt wurde. Die Reflektorlampen in jedem zweiten Zwischenraum verliehen dem Flur einen warmen Glanz.
In jedem zweiten dieser getäfelten Rechtecke hing ein Gemälde, die meisten in kunstvoll verzierten Rahmen, so als stünden diese Kunstwerke in überaus hohem Ansehen. Jedem Gemälde war ein eigenes Geviert vorbehalten.
Obwohl stark unterschiedlich in den Themen - von spätmorgendlichen Bergimpressionen mit See, über eine Scheunenhofszene bis hin zu einem hohen Wasserfall -, war allen Gemälden eine geradezu schmerzlich betörende Verwendung des Lichts eigen. Der Bergsee lag zwischen hoch aufragenden Gipfeln, von hinten beschienen von Sonnenstrahlen, die jenseits eines im Dunst versinkenden Gebirges durch sich auftürmende goldene Wolken brachen. Einer dieser prächtigen Lichtstrahlen streifte das Ufer. Der Wald ringsum versank in anheimelnder Dunkelheit, während in der Mitte das Paar auf dem fernen Felsvorsprung von seinem warmen Strahl erfasst wurde.
In der Scheunenhofszene scharrten die Hühner auf dem mit Stroh bestreuten Pflaster, das von einer unsichtbaren, gedämpften Lichtquelle beschienen wurde, die es, mangels der harschen Helligkeit direkten Sonneneinfalls, nur noch lebenssprühender erscheinen ließ. Nicci wäre nie zuvor auf die Idee gekommen, einen Scheunenhof für ansehnlich zu halten, doch dieser Künstler hatte seine Schönheit nicht nur erkannt, sondern sie noch hervorzuheben gewusst. Im Vordergrund des Gemäldes mit dem sich über einen fernen, hohen Kamm ergießenden Wasserfall verband der Bogen einer natürlichen Steinbrücke den düsteren Wald zu beiden Seiten. Auf dieser Brücke stand sich ein Paar gegenüber, von hinten beschienen von der untergehenden Sonne, die das majestätische Gebirgsmassiv in tiefes Violett tauchte. In diesem Licht umgab die beiden eine Erhabenheit, die ergreifend war.
Nicci fand es bemerkenswert, dass so viele Dinge im Palast des Volkes der Schönheit gewidmet waren. Von
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