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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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Kugeln wohl entkommen, dafür aber oft gestolpert und gefallen, und wahrscheinlich hat ihn gerade ein solcher Sturz vor weiteren Kugeln bewahrt. Möglicherweise stolperte der Funker just in dem Moment, als die Zeigefinger von drei Scharfschützen am Abzug waren, und verschwand durch seinen Sturz aus dem Sichtfeld der Feinde. Aber warum schießen sie überhaupt auf ihn, wenn er nur friedlich in Zivil vorbeigeht? Das wollte auch der Kommandant gern wissen, er würde ein Vermögen dafür geben zu erfahren, wer sich in den Wäldern um den Kontrollpunkt versteckt. Doch in dem Augenblick, als der Granatenbeschuss wieder einsetzte, kam ihm ein Gedanke, der ihn schon mehrmals während einer schlaflosen Nacht heimgesucht hatte: Was, wenn es gar keinen Krieg gibt, wenn das Ganze nur ein groß angelegtes Experiment ist, mit dem jemand die Widerstandsfähigkeit der verschiedenen Kategorien von Soldaten in einer untypischen Situation feststellen will? Ein Experiment, bei dem die Opfer vielleicht schon in gewisser Weise gekennzeichnet sind und nicht dagegen protestieren, so früh von der Lebensbühne abzutreten. Der Kommandant kauerte sich in seinem Loch noch mehr zusammen, während er dem unheilverheißenden Heulen der Granaten lauschte. Eine Granate explodierte unweit von ihm, und eine Menge Erde prasselte auf ihn herab. Dann wurde es still, und er hörte deutlich jemanden weinen und von Zeit zu Zeit »Liebe Mutter, meine liebe Mutter!« rufen. Nach einer Weile ging das Weinen in ein Winseln über und klang so, als sollte es nie mehr aufhören. Der Kommandant hielt sich die Ohren zu, aber dem gnadenlosen Winseln konnte er nicht entkommen. Etwas später meldeten sich die feindlichen Waffen wieder, und als sie verstummten, war auch das Winseln nicht mehr zu hören. Das war ein Volltreffer, davon konnte sich der Kommandant später überzeugen. Obwohl er nicht gleich die Identifizierung vornehmen konnte, war er doch sicher, dass der Kindersoldat getroffen war, der vorhin hier, fast an derselben Stelle, voll Kummer und Scham heulte, weil er sich aus Angst in die Hose gemacht hatte. So trifft die Natur ihre Auswahl, dachte der Kommandant, die Härtesten und die Zähesten lässt sie am Leben. Sein Blick glitt von einem Soldaten zum anderen, und er musste gestehen, dass die Kriterien dieser natürlichen Auslese wirklich merkwürdig waren. Man hätte erwarten können, ein Dutzend vitaler, gesunder, kräftiger und entschlossener Soldaten zu sehen, dabei stand er einem bunten Haufen von schlaksigen und kleinwüchsigen, dicken und mageren, mürrischen und albernen Männern gegenüber. Wie viele sind wir noch?, fragte er den jungen Offizier. Der blätterte in seinem Notizblock und sagte schließlich: Alles in allem noch neunzehn. Vielleicht sollten wir uns in zwei Gruppen aufteilen, sagte der Kommandant, und uns heute Nacht aus dem Staub machen. Aber auf welchem Weg denn, fragte der junge Offizier. Überall sind feindliche Truppen. Gehen wir nach rechts, den Berg runter, treffen wir auf jene, die auf den Funker geschossen haben, unten links befinden sich diejenigen, die uns schon aus dem Wald, und zwar gemeinerweise von hinten, angegriffen haben, und vor uns sind jene feindlichen Einheiten, die kaltblütig eine Gruppe unbewaffneter Soldaten niedergemäht haben und die mit allen möglichen Waffen auf uns feuern. Wären sie im Besitz einer Atombombe, würden sie nicht zögern, sie auf uns zu werfen, sie würden nicht einmal prüfen, aus welcher Richtung der Wind weht, um festzustellen, wohin der radioaktive Staub fliegt. Sieh mal dort, sagte der Kommandant und zeigte auf den entferntesten Teil des Waldes, vor dem eine große Wiese lag. Sehe ich, sagte der junge Offizier, aber was gibt es dort? Dort gibt es nichts und niemanden, sagte der Kommandant, und das ist genau, was wir brauchen. Aber wie gelangen wir hin?, fragte der junge Offizier, diese Gegend hier ist für eine Hasenjagd doch wie geschaffen. Der Kommandant kratzte sich an seinem verschwitzten Kopf. Wenn es so ist, sagte er, dann werden wir uns alle einbilden müssen, Hasen zu sein, denn das ist die einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen. Und was machen wir mit den Toten?, fragte ein Soldat, nachdem der Kommandant und der junge Offizier die Leute in den noch unvollständigen Plan eingeweiht hatten, wir wollen sie doch nicht auf Gedeih und Verderb dem Feind ausliefern! Was soll der Unsinn, erwiderte der Kommandant, die sind doch tot, sollen wir sie etwa ausbuddeln? Aber natürlich,

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