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Kontrollverlust - Kontrollverlust

Kontrollverlust - Kontrollverlust

Titel: Kontrollverlust - Kontrollverlust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gude
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eine Datenmaske mit Informationen über das Unternehmen, das sie für den Anrufer zu repräsentieren hatte. Sie hatte weitere zwei Sekunden, um sich zu orientieren, spätestens dann musste sie abnehmen.
    Die Topkunden nahmen das Business Center in Anspruch, wenn Relocations, Mergers & Acquisitions oder Expansionsschübe zeitlich befristeten, räumlichen und personellen Support erforderten. Wenn die Deutschlandzentrale eines Dax-notierten Konzerns umzog, konnte sie schon mal zwei oder drei Monate lang mit zwei Kolleginnen exklusiv für diesen Kunden Dienst tun. Sie fühlten sich in solchen Phasen wie genuine Mitarbeiter des Kunden und kannten nach einigen Wochen dessen interne Struktur besser als die Sekretärinnen, die gerade mit dem Ein- und Auspacken ihrer Umzugskartons beschäftigt waren. Viele Kunden mieteten temporär ganze Büroeinheiten inklusive Sekretariat. So konnte es vorkommen, dass sie innerhalb eines Monats für drei verschiedene Vorgesetzte arbeitete, die sie vor- und nachher nie mehr sah. Wenn sich einer von ihnen als cholerischer Neurotiker entpuppte, konnte sie mit ihren Kolleginnen entspannt darüber lästern, weil er nicht lange bleiben würde. Und machte man seine Sache richtig gut, kam es vor, dass man von einem Personaler des Kunden vom Fleck weg abgeworben wurde. Aber wer wollte schon von einem Typen wie Weiler ›entdeckt‹ werden?
    Sie erhielt einen Anruf vom Empfang, der Concierge unten im Foyer kündigte Weilers Geschäftspartner an. Sie steckte sich ein vorbereitetes Namensschild mit Weilers PCC-Unternehmenslogo und ihrem Namen an den Kragen des Kostüms und ging zum Lift. Als die Aufzugtüren sich öffneten, starrte sie konsterniert in die Kabine.

     

     

     

     

     

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    »And nothing looked meaner, scarier and yet more alluring than a gatling gun.«

    Julia Keller

     
    Keine Sensationen, keine Revolutionen an diesen ersten Maitagen des Jahres 1891 in Darmstadt. Das Großherzogliche Polizeiamt veröffentlicht die Verordnung für das Droschkenfuhrwesen in der Residenzstadt. Theaterpublikum und Lokalpresse feiern Klara Zieglers Gastspiel als Medea im Hoftheater. Auf weniger Beifall in Presse und Öffentlichkeit stoßen die landesweiten Maifeiern der sozialrevolutionären internationalen Arbeiterpartei – ein Redakteur der Darmstädter Zeitung echauffiert sich über das flegelhafte Benehmen der Demonstranten. Die Schlachthauskommission stellt der Stadtverordnetenversammlung ihre aktualisierten Rentabilitätsberechnungen für den geplanten Neubau an der Frankfurter Straße vor; das Darmstädter Tagblatt protokolliert eine kurze Diskussion und breite Zustimmung zur Bewilligung der erhöhten Baukosten. Und ein bulgarischer Stabsarzt berichtet über spektakuläre Erfolge bei der Bekämpfung der Schwindsucht   – mit einem Präparat der Darmstädter Firma Merck.
    Und doch setzten diese Tage eine Zäsur im südhessischen Darmstadt, die dem aufmerksamen Beobachter und Flaneur nicht verborgen blieb. Vor der ersten Maiwoche des Jahres 1891 spielten die Kinder Räuber und Gendarm auf den Straßen und Plätzen der Stadt, danach stellten sie Cowboys und Indianer dar. Und eines dieser Kinder hieß Jakob Brecker.
    Der kleine Jakob stand in den frühen Nachmittagsstunden des dritten Mai auf Zehenspitzen auf den Planken der Holztribüne an der Pallaswiesenstraße, sein Vater hielt ihn hinten am Hosenboden fest, damit er nicht vornüberkippte. Rodeoreiter hatten sie gesehen, Lassokünstler, eine echte Bisonherde, und die legendäre Scharfschützin Annie Oakley. All das hätte gereicht, um die Fantasie eines begeisterungsfähigen, achtjährigen Jungen für Monate zu befeuern, doch verblasste alles zuvor Gesehene gegen dieses atemberaubende Finale, die Schlacht zwischen Soldaten und Indianern, diese überwältigende Mischung aus Staub, Kriegsgeschrei, Kommandorufen, Schüssen, wiehernden Pferden und dem Getrappel ihrer Hufe. Und im Zentrum des Geschehens Buffalo Bill im Zweikampf gegen Häuptling Sitting Bull, mit dessen Messer am Hals.
    Alle Zeichen deuteten auf eine Niederlage der Soldaten – denen die Sympathien des Darmstädter Publikums gehörten – gegen die wilden Rothäute. Nur ein Wunder konnte noch helfen. Und es sollte kommen. Die riesigen Tücher an der westlichen Schmalseite der Arena teilten sich, sechs Pferdekutschen stoben auf das Schlachtfeld, mit offenen Ladeflächen und aufmontierten Lafetten, auf denen glänzend polierte Metallzylinder standen, die das Sonnenlicht

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